Fantastische Zahlen

von Thomas Trappe 24. Juli 2013

Im Bezirk Pankow gibt es extrem wenige Kindswohlgefährdungen. Sagt das Jugendamt. Experten halten die Angaben für unwahrscheinlich.

Diese Zahlen machen nicht nur Pankower Kinder froh: Der Bezirk, der mit Abstand größte in ganz Berlin, verzeichnet die wenigsten Fälle von Kindswohlgefährdungen, und zwar mit noch größerem Abstand. Gerade veröffentlichte das Statistische Landesamt, erstmals überhaupt, einen Bezirksvergleich. Ein klares Mittelfeld ist dabei zu erkennen, dreistellige Zahlen im mittleren Bereich weisen die meisten Bezirke auf. Ausreißer nach oben gibt es – Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg und Reinickendorf. Und dann ist da noch Pankow, oder sollte man besser schreiben Bullerbü? 225 Fälle von Verfahren zur Prüfung der Kindswohlgefährdung hat es hier laut Statistikamt im vergangenen Jahr gegeben, das sind 2,5 Prozent aller berlinweit registrierten Fälle. Im Bezirk leben allerdings mehr als zehn Prozent aller Berliner. Zu schön um wahr zu sein? Nun ja, es scheint ein wenig so.

Zunächst zu den Zahlen, wie sie in der Statistik vorliegen. Aufgelistet sind die von den Jugendämtern gemeldeten Verfahren, aufgelistet nach Geschlecht und Altersstufen, zudem danach, ob es sich um akute oder latente Kindswohlgefährdungen handelte oder am Ende der Prüfung keine Kindswohlgefährdung konstatiert wurde. Von latent wird gesprochen, wenn der Verdacht besteht, dass eine Gefährdung bevorsteht. Akut heißt, dass eine körperliche, seelische oder geistige Schädigung des Kindes zu erwarten oder bereits eingetreten ist. In Pankow waren demnach wesentlich mehr Mädchen als Jungen 2012 kindswohlgefährdet (130 zu 95); in allen anderen Bezirken war das Verhältnis umgekehrt oder ausgeglichen. Auch beim Verhältnis der latenten zu akuten Gefährdungen sticht Pankow mit einem Verhältnis 74 zu 48 heraus; es ist damit der einzige Bezirk, in dem mehr akute als latente Gefährdungen registriert wurden. 

 

Kinderschutz zweifelt

 

In etwas mehr als hundert Fällen wurde in Pankow am Ende eines Verfahrens festgestellt, dass keine Kindswohlgefährdung vorliegt, wenn auch vereinzelt dass Jugendamt Eltern Hilfen anbot. In anderen Bezirken war der Anteil der Verfahren, an deren Ende eine Gefährdung verneint wurde, wesentlich größer. In Reinickendorf galt das beispielsweise für zwei Drittel aller Fälle, was die hohe Ausgangszahl in diesem Bezirk entsprechend relativiert. 

Trotzdem: Pankow sticht heraus. Dass der Bezirk ein Hort der Kinder-Idylle ist, wie es die Statistik suggeriert, will Beate Köhn nicht so recht glauben. Köhn ist Koordinatorin beim Berliner Notdienst Kinderschutz, die 24-Stunden-Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche in Berlin. „Ich glaube an unsere Zahlen“, sagt Köhn diplomatisch. Und diese sprechen eine andere Sprache, wenn auch keine gänzlich andere. So gab es beim Notdienst in Pankow im vergangenen Jahr 128 „Inobhutnahmen“, das sind etwas mehr als sechs  Prozent aller Berliner Fälle. Pankows Zahlen sind dabei zwar immer noch unter dem Schnitt, aber es gibt durchaus Bezirke mit weniger Fällen, unter anderem Friedrichshain-Kreuzberg. Beate Köhn erklärt dann auch, dass die veröffentlichten Zahlen mit Vorsicht zu genießen sein; erklären kann sie sich die offenbaren Missverhältnisse nicht.

 

Zahlenerfassung wird überarbeitet

 

Da ist sie nicht die Einzige. In der Senatsverwaltung für Bildung und Jugend werden die Zahlen für die einzelnen Bezirke zusammengetragen. Die Frage, wie es zu dem Ausreißer in Pankow kommt, wurde dort zwar von Fachleuten recherchiert, kann aber auch nach fünf Tagen nicht beantwortet werden. Beim Bezirks-Jugendamt, das die Zahlen an die Senatsverwaltung, gibt es zumindest eine Antwort. Die für das Am zuständige Stadträtin Christine Keil (Linke) erklärte auf Anfrage, dass „die übergroße Abweichung nicht erklärbar ist“. So gebe es in Pankow nach ihrer Ansicht zwar durchaus eine gute Sozialstruktur und dadurch wohl auch unterdurchschnittlich viele Kindswohlgefährdungen – aber sicher nicht im in der Statistik abgebildeten Rahmen.

Auch wenn es durch die Senatsseite einheitliche Vorgaben zur Erfassung von Gefährdungen gebe, würde das wohl trotzdem nicht immer in allen Bezirken gleichermaßen befolgt, räumt Keil ein. Sprich: In Pankow kommen viele Fälle, die beim Jugendamt auflaufen, gar nicht in die Statistik. Zum Beispiel, weil sie sofort als erledigt betrachtet werden. Ihre Jugendamtsleiterin wolle sich jetzt mit „den einzelnen Trägern der Jugendhilfe zusammensetzen“, so Keil. Bei der Statistik-Arbeit „besteht sicher noch Verbesserungsbedarf“.

 

 

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