Bettlaken-Höhlen in der Turnhalle

von Anja Mia Neumann 22. Oktober 2015

Kinderbilder unter Basketballkörben, Sprossenwände als Kleiderständer und Bierbänke vom Prater: Seit gut einem Monat wohnen Flüchtlinge in der Sporthalle Wichertstraße. Wie geht das?

Vor einigen Stunden hatte hier noch eine Truppe Basketballer gespielt. Und dann: Wie bastel ich aus einer Turnhalle ein Zuhause? Eine würdige Unterkunft für Menschen, die vor Krieg und Zerstörung geflohen sind? Diese Fragen stellte sich Candan Ögütcü vor gut einem Monat. Seitdem leitet der 53-Jährige die Notunterkunft (Nuk) für Flüchtlinge in der Wichertstraße gegenüber vom Humannplatz.

Es ist die vierte Unterkunft für Flüchtlinge in Prenzlauer Berg. Die einzige in einer Sporthalle.

Ögütcü ist noch immer aufgeregt, wenn er vom Beginn erzählt. Er sitzt in einem kleinen Lehrerzimmer direkt an einem Fenster zum Halleninneren. Ein Waschbecken, Schuhkartons im Regal, zugestopft mit Krams, oben drauf einige Bälle, Zettel mit Telefonnummern kleben am Spiegel. Das Fenster – wohl eigentlich gedacht, um den Schülern und Sportlern beim Trainieren zuzusehen – ist mit Papier zugeklebt. Sichtschutz.

 

Sich zurückziehen: Fehlanzeige

 

„Wir haben hier ein unglaubliches Raumproblem“, sagt Ögütcü. 150 Menschen fasst die Halle – auf zwei Geschossen je zwei abgetrennte Hallenteile. Dazu zwei Tribünen, Duschräume, ein Flur mit Treppenhaus und Fahrstuhl. Das war’s. Sich zurückziehen: Fehlanzeige.

Beim Morgenappell hat Ögütcü am Tag unseres Treffen 131 Menschen gezählt. Am Nachmittag sind fast alle weg. Auf zum Lageso, zum Landesamt, zur Registrierung. Ob sie wiederkommen? „Einige bleiben weg. Kommen vielleicht woanders unter. Hier ist eine große Fluktuation.“ Mittlerweile blieben aber auch einige Kinder allein hier, während die Eltern den Behördenmarathon unternähmen. „Wir konnten Vertrauen aufbauen.“ Draußen steht Security Personal – sechs Menschen an der Zahl.

Am allerersten Abend – da kamen die Busse mit den Flüchtlingen schon an – hatten Soldaten den Hallenboden mit Platten ausgelegt, Betten ins Innere getragen. „Die Menschen waren erschöpft und müde.“ Ein großes Durcheinander. Anfangs mussten alle Bewohner – so heißen die angekommenen Flüchtlinge hier – im Flur essen. Im Stehen. Der Boden sollte geschützt werden. „Eines Nachts kam mir dann die zündende Idee“, berichtet Ögütcü. „Ich muss die Leute aufs ganze Haus verteilen.“

 

Zuerst die Grundbedürfnisse

 

Seitdem schlafen in drei der vier Hallenteile Menschen. Der Hallenteil unten links ist der Gemeinschaftsraum, abgedeckt mit einer Plane: Der Biergarten Prater stellte Bänke und Tische zur Verfügung. In dem Raum passiert all das, was gemeinsam abläuft. Malen, Ball spielen, essen, reden.

Gemaltes von Flüchtlingskindern liegt auf Stühlen und hängt an den Wänden. Foto: Anja Mia Neumann

 

Gleich zu Beginn seien viele Vorschläge gekommen, von Ehrenamtlichen, für die Freizeitgestaltung. „Daran können wir jetzt erst richtig denken“, sagt Ögütcü. Malen zum Beispiel gehe natürlich immer – und helfe den Kindern auch sich in der neuen Situation zurecht zu finden. „Aber so etwas wie Ayurveda-Kurse. Das passt nicht zu den Räumen hier.“

Zuerst waren die menschlichen Grundbedürfnisse an der Reihe. Problem: Waschmaschinen. In einer Turnhalle? Das Bauamt musste kommen, die Anschlüsse verändern. Spender organisierten drei Waschmaschinen und einen Trockner. „Ein großer Sprung.“

 

Ohne Ehrenamtliche hätten wir nach drei Tagen das Handtuch werfen müssen.“

 

Die Hygiene ist Priorität eins. „Jetzt immer noch.“ Die schlechten Abflüsse sorgten für so manche Überschwemmung in den Duschräumen. Die Heinrich-Schliemann-Oberschule war engagiert und half, wo sie konnte. „Die Schulleiterin schickte sogar ihren Hausmeister vorbei“, lobt Ögütcü. Künftig putzt eine Reinigungsfirma zwei Mal am Tag die Bäder. Und es gibt Duschzeiten.

Der Caterer bringt das warme Essen inzwischen abends statt mittags – denn da ist ja fast niemand in der Halle, sondern die meisten mit dem Kampf um die Registrierung beschäftigt. Auf einer Tribüne ist eine Kleiderkammer eingerichtet. Helfer aus dem Unterstützerkreis, eingerichtet quasi in der ersten Minute des Bestehens der Unterkunft, kümmern sich darum. Auch einen kleinen Mediziner-Raum gibt es.

Überhaupt ist der 53-Jährige überwältigt von der Hilfsbereitschaft: „Da können wir nur schwärmen. Ohne Ehrenamtliche hätten wir nach drei Tagen schon das Handtuch werfen müssen.“ Ehrliche Worte. Seien es kurzfristige Bettwäsche-Spenden, Übersetzungen, das Organisieren von Rollstühlen oder der Kaffee mit ein paar Flüchtlingen. Ögütcü spricht schnell, lässt sich von den Menschen, die alle paar Minuten an das Zimmer klopfen, nicht irritieren.

 

Erste Worte: Milch. Oder Wasser.

 

Vier hauptamtliche Sozialarbeiter arbeiten inzwischen in der Halle. Narjess Rahmani ist eine von ihnen. Ihr Vorteil: Sie spricht arabisch. Damit ist sie schnell Mutter, Vertraute und Mädchen für alles bei den Flüchtlingen geworden, vor allem bei den Frauen. Wen sollten sie sonst nach Damenbinden fragen? „Oft geht es darum, Dokumente zu übersetzen“, sagt die 34-Jährige. Oder um die ersten Brocken Deutsch. „Viele kommen zu mir und sagen stolz: Milch. Oder Wasser.“

Sozialarbeiterin Narjess Rahmani mit dem Leiter der Notunterkunft Candan Ögütcü. Foto: Anja Mia Neumann

 

Diese Beobachtung hat auch Ögütcü gemacht. „Da saßen drei junge Syrer am Boden und gucken auf kleine Zettel und übten die deutsche Aussprache: heute, gestern, morgen. Das hat mich beeindruckt.“

Ob so etwas wie Alltag eingekehrt ist in der Notunterkunft? Für einige ja, für andere nein. Am kompliziertesten ist wohl das Schlafen. Wer teilt sich das Zuhause schon gern dauerhaft mit 50 anderen Menschen in einem Raum? Paravents, Raumteiler, gibt es nicht. Wegen des Brandschutzes.

 

Keine Fotos von den Wohnungen der Menschen

 

„Eigentlich ist die Halle für kurzfristige Aufenthalte ausgelegt“, sagt Ögütcü. „Wir richten uns darauf ein, dass es hier ein Jahr so bleiben kann.“ Da ist Fantasie gefragt, um sich ein wenig Einsamkeit und Unbeobachtetsein zu verschaffen.

Viele Familien oder Gruppen haben ihre Betten eng zusammengestellt und an eine Wand gerückt. Beliebt sind die mit den Sprossenwänden, denn sie lassen sich gleich als Kleiderständer nutzen. Mit bunt gemischten Laken und Vorhängen haben sie ihre Bettenburgen geschützt – vor den Blicken aller.

Sie sind aktuell die Wohnungen der Menschen, die hier Unterschlupf gefunden haben. Anders lässt sich das nicht sagen. Aus Respekt davor und weil nicht jeder gern seine Wohnung im Internet finden möchte, gibt es hier auch keine Fotos von den Festungen aus Betten.

 

Alles soll wohnlicher werden – und mit mehr Spaß

 

„Die Leute sind dankbar“, sagt Sozialarbeiterin Rahmani. Wegen ihres Vornamens wird sie von allen nur Jess genannt. Zwei Kinder aus der Turnhalle werden bald in einen Kindergarten in der Nähe gehen. „Viele der Bewohner haben Schlimmes erlebt. Sie sagen: Es geht uns gut in Deutschland. Und freuen sich über ein Stück Kuchen am Abend.“

Die nächsten Schritten? Für Leiter Ögütcü sind das Deutschkurse, Dekoration und Freizeitaktivitäten. „Ich möchte die Lebensbedingungen der Menschen hier optimieren.“ Wohnlicher soll es werden, freundlicher. Da sind Ideen gefragt. Schon jetzt wird sonntags im Hof Fußball gespielt. Auch ein Kino-Abend ist geplant.

„Wir wollen die Leute aus ihrer beklemmenden Situation rausholen. Sie müssen auch mal Spaß haben.“ Schwierig genug in einer Turnhalle, in der man nicht nur Sport macht, sondern leben muss.

 

Wir sind eine werbefreie Mitgliederzeitung. Unsere (zahlenden) Mitglieder machen unsere Arbeit überhaupt erst möglich. Bitte werden Sie jetzt Mitglied und unterstützen Sie uns: Hier geht es lang! Vielen Dank!

Das könnte Dich auch interessieren

Hinterlasse einen Kommentar