Der Musikertraum des Christoph Schlingensief

von Matthias Heine 18. Februar 2011

In der Wohnung des Regisseurs unweit der Max-Schmeling-Halle sprach Matthias Heine 2009 mit ihm über seine Zeit bei der Band Vier Kaiserlein. 

Es war ein milder Sommerabend im Jahre 2009, als ich mich mit Christoph Schlingensief zum letzten Mal für ein Interview traf. Er empfing mich in seiner Wohnung in der Nähe der Max-Schmeling-Halle in einer verwirrend fröhlichen Stimmung. Zwar hatte er gerade die Nachricht bekommen, dass sein Lungenkrebs wieder einmal neue Metastasen gebildet hatte, aber zugleich setzte er große Hoffnung in eine unkonventionelle Therapie, die er gerade ausprobierte. 

 

Wir wissen alle, dass es nichts geholfen hat. Christoph Schlingensief, der in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten in Prenzlauer Berg wohnte – zuerst in einer Wohnung in der Schwedter Straße, dann mit Blick auf den Jahn-Sportpark –, ist am 21. August 2010 gestorben. Er wurde nur 49 Jahre alt. Zuletzt sind ihm ganz offensichtlich Dinge wieder wichtiger geworden, die in den Jahren davor ein wenig in Vergessenheit geraten waren. In dem Zimmer, das vom Flutlicht des Jahn-Sportparks eine seltsame Extrabeleuchtung bekam, redete Schlingensief drei Stunden lang. Er erzählte von der Zukunft – seinem Operndorf in Afrika –, von der Gegenwart – gerade hatte ihn Martin Wuttke auf einer Privatvorführung von „Inglourious Basterds“ mit Quentin Tarantino bekannt gemacht. Aber auch von der fernen Vergangenheit. Besonders viel und leidenschaftlich sprach er von seinen Zeiten als Musiker irgendwo im Grenzgebiet zwischen Avantgarde und Neuer Deutscher Welle.

 

Kaum jemand weiß ja noch, dass Schlingensief, der als Film- und Theater- und Opernregisseur, als Performancekünstler und zuletzt auch als Bestseller-Autor mit seinem Krebs-Tagebuch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ berühmt wurde, in den frühen Achtzigerjahren mit einer Band namens Vier Kaiserlein auftrat und auch Kassetten sowie eine (niemals veröffentlichte) Schallplatte aufnahm.

 

„Strawinsky und die Gap-Band“

 

Schlingensief komponierte alle Lieder der Vier Kaiserlein. Sein damaliger Bandkollege Christoph Gerozissis erinnert sich: „Er hatte eine Melodie im Kopf, hat uns das Songgerüst dann schon mit fertigen Lyrics vorgespielt und sagte dann so etwas wie, er wolle, dass das nach Strawinsky und der Gap-Band klinge – das müsste man da irgendwie reinbekommen.“

 

Schlingensief, Gerozissis und die anderen Mitglieder der Band in München gehörten zum Umfeld der von dem Schriftsteller und Musiker Thomas Meinecke herausgegebenen Zeitschrift „Mode und Verzweiflung“. Sie war Zentralorgan einer Gruppe von Künstlern, Musikern und Autoren, die alle von jenem kreativen Aufbruch inspiriert waren, der in England mit Punk 1975/76 begann und bald darauf nach Deutschland schwappte.

 

„Wenn er zuletzt in München bei öffentlichen Veranstaltungen auftrat, etwa in den Kammerspielen oder im Filmmuseum, erzählte er erstaunlich viel von den Vier Kaiserlein und von ,Mode und Verzweiflung‘“, erzählt die Musikerin und Malerin Michaela Melián. Gemeinsam mit Meinecke gehört sie zum Kern der Band FSK, die damals oft mit den Vier Kaiserlein zusammen auftrat und heute noch existiert. Am 6. November 2010 sangen und spielten Melián und Meinecke vier Lieder von Christoph Schlingensief bei der großen Trauerfeier in der Volksbühne.

 

Neben Schlingensief gehörte der Gruppe noch ein weiterer Musiker an, der später berühmt wurde: Tobias Gruben. Der gründete 1984 in Hamburg die Gothic-Gruppe Cyan Revue und später dann Die Erde. Beide Bands genießen heute einen Legendenstatus. Gruben starb 1997 an den Folgen seines Drogenkonsums – ein klassischer Musikertod. 

 

Der Name einer Lebkuchenspezialität

 

Kennengelernt hatten er und Schlingensief sich in einem Haus im Münchner Westend, in dem damals sowohl Schlingensief als auch Thomas Meinecke wohnten. Dort wurde auch der Name Vier Kaiserlein in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1981 ersonnen – nach einer Nürnberger Spezialität. Meinecke erinnert sich: „Christoph und ich kamen auf den Namen anlässlich einer Lebkuchenschachtel, die zufällig auf seinem oder meinem Tisch lag. Wir wohnten damals im selben Haus, und Christoph verbrachte so gut wie jeden Abend bei mir und meiner damaligen Freundin. Er war 19 und frisch aus Oberhausen zugezogen, da waren wir als 24- respektive 22-Jährige so etwas wie Ersatzeltern.“ Schlingensief hatte die Dachgeschosswohnung in der Bergmannstraße übrigens bekommen, weil im Erdgeschoss eine Apotheke war. Deren Besitzer war mit Schlingensiefs Vater, ebenfalls Apotheker, bekannt. 

 

Schlingensief war damals an der Münchner Filmhochschule abgelehnt worden.  Seine Trauer hielt sich in Grenzen, denn das deutsche Autorenkino der Sechziger- und Siebzigerjahre, das er liebte, war an sein Ende gekommen – nicht nur durch den Tod Rainer Werner Fassbinders 1982. „Es gab damals einen Umschwung im Deutschen Film. Plötzlich wollten die Jüngeren alle Steven Spielberg nacheifern. Christoph war völlig entsetzt“, erzählt Christoph Gerozissis. Also ging er mit der Musik gewissermaßen ins Exil. Etwas Filmisches und Dramatisches hatten aber auch seine Lieder: „Jeder Song hatte eine visuelle Idee und die männliche und die weibliche Stimme traten in einen gewissen Dialog“, erinnert sich Gerozissis, der heute als Galerist in New York lebt.

 

Soloauftritt in der Mensa

 

Zunächst hatte Schlingensief es ganz allein probiert. Michaela Melián erzählt von den „diversen Instrumenten“, die er sich kaufte und mit denen er – darin typisch Punk – sich bald auf die Bühne wagte: „Im Januar 1982, es lag Schnee, ist Christoph alleine mit Keyboard und Trompete in der Mensa der Universität Innsbruck als unsere Vorgruppe aufgetreten“, so Melián. 

 

In Innsbruck habe er wohl auch Tobias Gruben kennengelernt. Der reiste damals zu fast jedem Auftritt von FSK – als Fan. Im Gegensatz zu ihm hatte Schlingensief aber ein Auto. So fanden die beiden sich in einer Zweckgemeinschaft zusammen, aus der dann eine musikalische Partnerschaft wurde. 

 

Der David-Bowie-Aficionado Gruben und Claudia Hauser, die eine Jazz-Ausbildung hatte, sangen bei den Vier Kaiserlein, Christoph Gerozissis spielte Schlagzeug und Schlingensief Orgel. Ja – Orgel! Matthias Colli, der später als Gitarrist zur Band stieß, erklärt das so: „Ich meine, er hätte immer das Wort Orgel benutzt, das lag für einen ehemaligen Messdiener der Katholischen Kirche ja nahe. Außerdem war es ein deutsches Wort, was wichtig war. Keyboard war ein Wort für Altrocker. Mal davon abgesehen, dass Christoph damals so gut wie kein Englisch sprach.“ 

 

„Unverfrorener Dilettantismus“

 

Das erste Konzert der Vier Kaiserlein fand am 12. Februar 1982 in der Aula der Kunstakademie München statt – wieder im Vorprogramm von FSK. Der ungnädige Kritiker Karl Bruckmaier von der „Süddeutschen Zeitung“ notierte, ihr „unverfrorener Dilettantismus“ hätte „das mit schrägen Tönen vertraute Publikum mit Noten- und Textblättern provoziert“. Er hörte viele „Aufhören!“-Rufe. Seltsamerweise nennt er die Band „Die kleinen Kaiserlein“. Dieser Name geistert auch durch eine Kritik von Jürgen Elsässer in den „Stuttgarter Nachrichten“ vom 22. März 1982. 

 

In der schwäbischen Großstadt war eigentlich ein FSK-Konzert angekündigt. Dann erkrankte ein Musiker. Stattdessen fuhren Michaela Melián und Christoph Schlingensief hin und traten als Duo „Roy Glas und Fritzi Krieg“ auf. Elsässer beschrieb das Szenario eines wohl ziemlich typischen Schlingensief- Auftritts: „Glas rückte zunächst einen Stuhl in die Bühnenmitte, nahm die Keyboards auf die Knie, stellte die Rhythmusmaschine an und legte seine Trompete und diverse Gegenstände für Spezialeffekte in Reichweite.“ Nachdem Fritzi Krieg alias Melián sich dazu gesellt hatte, brachten die beiden einige „herzerweichende Schnulzen“ im „Schlagerstil der Fünfzigerjahre“. Das Lied „Einsam“ aus dem Repertoire der Vier Kaiserlein wurde auch vorgetragen. Der Chronist notierte „reichlich Beifall“.

 

1983 stieß Colli als festes Bandmitglied zu den Vier Kaiserlein. Er lernte Schlingensief ebenfalls in Meineckes Wohnung im 2. Stock in der Bergmannstraße kennen. Colli: „Über die Musik für Christophs erste kürzere Filme ,What happened to Magdalena Jung? Die Macht der Unschuld‘ und ,Phantasus muss anders werden / Phantasus go home‘, die 1983 entstanden, bin ich in die Band gekommen, weil eine Gitarre noch eine gute Ergänzung war und Christoph und ich bei Film und Musik die gleiche Wellenlänge hatten.“ Colli und Gerozissis steuerten auch die Musik zu Schlingensiefs erstem längerem Film „Tunguska  – die Kisten sind da“ bei. 

 

Flaschenweise Kompaktnahrung

 

Schlingensief war jung und hatte viele Eisen im Feuer. Das ließ ihm wenig Zeit für andere Dinge – zum Beispiel für seinen Körper: „Er trank damals flaschenweise Kompaktnahrung und nahm sich keine Zeit zum Essen. Er sagte immer: ,Das hat genauso viel Kalorien,“ erinnert sich Gerozissis.

 

1983 nahmen die Vier Kaiserlein ihre erste Langspielplatte auf. Zuvor war bereits 1982 das Lied „Einsam“ auf einem Sampler namens „Wunder gibt es immer wieder“ des Hamburger Labels ZickZack erschienen. ZickZack gehörte Alfred Hilsberg. Der hatte als Journalist in „Sounds“ mit einer Artikelserie namens „Aus grauer Städte Mauern“ den Begriff „Neue Deutsche Welle“ bekannt gemacht.

 

Matthias Colli erinnert sich an die Aufnahmen für die Platte: „Wir waren vier Wochen lang im Studio bei Alfred Hilsberg in Hamburg. Am Ende wurde die LP nicht veröffentlicht, weil wir auch selbst nicht mit den Aufnahmen zufrieden waren. Holger Hiller von Palais Schaumburg war in der vierten Woche für ein paar Tage da, mischte ein paar Stücke neu ab, ließ sie auch auf einem Ghettoblaster laufen, um die akustische Massentauglichkeit zu prüfen, und schlug vor, Instrumentenspuren neu einzuspielen. Auch die Genauigkeit des Zusammenspiels fehlte ihm. Er hatte recht, wir hatten einfach zu wenig geübt.“  Gerozissis meint, der wohlmeinende Hilsberg hätte der Band einfach zu viel Zeit gelassen: „Ich weiß nicht, was passiert ist, irgendwie ist die Energie weggelaufen.“

 

„Aus der Ferne nicht zu machen“

 

Bald darauf lösten sich die Vier Kaiserlein auf. Die Gründe waren banal, weiß Christoph Gerozissis: „Christoph ist weggezogen. Wir sind in München geblieben. Aus der Ferne war das nicht zu machen.“ Gerozissis ist mit seinen Bands Autoparty, Big Damn Giant und diversen elektronischen Projekten noch musikalisch aktiv.  Colli arbeitet heute als Wissenschaftsmanager im Berliner Klinikum Charité. Was Claudia Hauser macht, weiß keiner der Befragten. 

 

Die Musik der Vier Kaiserlein kursierte allerdings als Kassette, damals ein sehr gängiges Medium für Erstveröffentlichungen ambitionierter, aber finanzschwacher Bands. Es handelte sich um Aufnahmen aus München 1982. 2004 hat sie der Punk-Fan Franck Herges – ergänzt um zwei spätere Lieder, bei denen Colli schon dabei war – als Vinyl-Schallplatte mit einer Auflage von 300 Exemplaren veröffentlicht. Herges bringt auf seinem Label „Was soll das?-Schallplatten“ in St. Ingbert ausschließlich solche Aufnahmen von „Kassettenbands“ der frühen Achtzigerjahre heraus. Das Tape der Vier Kaiserlein hatte ihm der Musikmanager Tim Renner zugeschickt. Renner war bereits als 16-Jähriger ein bekannter Musikjournalist. So kam er zu der Kassette: „Ich habe mit Christoph 1983 bei meiner NDR-Sendung ,Der Bericht zur Lage der Nation‘ zusammengearbeitet. Er war der München-Korrespondent.“

 

Herges beschreibt den Sound der Vier Kaiserlein als „minimale musikalische Kunstpoesie“: „Es waren meist kleine Geschichten in Liedform über Autounfälle, Liebe und Schmerz.“ Er, der nun wahrhaftig viel Schräges gehört hat, sagt: „Ich kenne keine zweite Band, die sich so anhört.“ Auch Matthias Colli sagt, die Musik sei „mit das Beste, was Christoph Schlingensief gemacht hat. Hier konnte er seinen ganzen Charme, seine ganze Verspieltheit zum Ausdruck bringen, seine extrem hohe Sensibilität und sein Harmoniebedürfnis.“ 

 

„Ich hasse Theater“

 

Dass Schlingensief später ausgerechnet als Bühnenregisseur Karriere machen würde, konnte sich damals keiner vorstellen. „Er sagte ganz oft: ,Ich hasse Theater‘. Das hatten wir alle gemeinsam. Dann ist er plötzlich ins Theater gewechselt.“ Christoph Gerozissis findet diese erstaunliche Meinungsänderung eigentlich typisch für Schlingensief: „Er war ein kultureller Freigeist.“ Und so jemand lässt sich auch nicht durch die eigenen Dogmen von gestern beschränken.

 

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