Pullis statt Plastikschafe

von Brigitte Preissler 21. April 2011

Stricken, Nähen, Häkeln: In Prenzlauer Berg fertigen längst nicht mehr nur Textildesigner oder Öko-Fundis ihre Schals und Sommerkleider selbst. 

Die spinnt doch, meinten die Branchenkollegen. Als Sigrid Henning 1998 ihr Wollgeschäft „Loops“ in der Wörther Straße aufmachte, wurde sie von vielen belächelt. Stricken und Häkeln, ja Handarbeiten generell – das galt damals noch als dermaßen uncool, dass man sich zu Recht fragen durfte, wie sich die damalige Mittdreißigerin mithilfe von Garnen, Nadeln und Strickanleitungen eine Existenz aufzubauen gedenke. 

Doch Sigrid Henning, geboren 1961 in Erlangen, wusste es besser. Nach dem Studium hatte sie zunächst als Architektin in einem Berliner Büro als Honorarkraft gearbeitet. Besonders glücklich war sie damit nie. „Ich war gut, ich hatte Neider,“ erzählt sie. „Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie man damit ein finanziell selbständiges Leben gestalten kann. Ich kam mir wie in einem Haifischbecken vor.“

 

Trutschige Öko-Fundis

 

Nun gab es Ende der 90er Jahre noch keine Online-Marktplätze für Handarbeiten, Dawanda zum Beispiel wurde erst 2006 gegründet. Wollfans galten, wenn sie nicht gerade Textildesign studierten, als trutschige Öko-Fundis, viele suchten sich deshalb lieber andere Hobbys. Auch Sigrid Henning ahnte natürlich nicht, wie hip textile Handarbeiten wenige Jahre später werden würden. Doch die Arbeit in Wollgeschäften kannte sie, schon seit 1984 hatte sie sich ihr Studium an der Berliner HDK mit solchen Jobs finanziert. „Da wusste ich eben, dass man damit ein schönes, gutes, einfaches, kreatives Leben haben kann. Eine Person konnte schon immer von einem schönen Wolleladen leben. Und es ist ja ein schönes Berufsleben. Für jemanden, der anfängt, ist es toll, sein eigener Chef zu sein und die Sachen einzukaufen, die man eh gut findet. Und von den Lieferanten wird man gut bedient, wenn man sowieso schon Vorkenntnisse hat.“

Sie ließ sich also in Prenzlauer Berg nieder. In den ersten Jahren gab es, außer dem jungen „Loops“-Geschäft, im damaligen Sanierungsgebiet um den Kollwitzplatz zwar nur wenig Einzelhandel. Doch schon damals zogen immer mehr Familien mit Kindern in die Gegend. Und Sigrid Henning hoffte eben, dass diese Mütter, Großmütter und alternativ sozialisierten Familienväter Interesse an Handarbeiten und wollenen Accessoires für ihren Nachwuchs entwickeln würden. 

 

Beständigkeit und bleibende Werte

 

Genau so kam es auch – und noch besser. Denn nicht nur auf dem Kollwitzmarkt werden ja heute allwöchentlich handgemachte Häkelmützen und selbstgenähte Kinderkleider angeboten. In den letzten Jahren eröffneten in Prenzlauer Berg viele junge Näh- und Handarbeitsgeschäfte wie „Nähraum“ in der Senefelderstraße oder „Mama Makada“ in der Danziger Straße. Sie bieten Nähkurse an oder nehmen Selbstgeschneidertes in Kommission, die „Filzkönigin“ in der Göhrener Straße verkauft edle Wollfilze. Die Modedesignerinnen Beate Lenger und Nicole Mieth von „Glaube und Wahrheit“ in der Schliemannstraße (www.glaubeundwahrheit.de) bieten seit vier Jahren handgenähte Kinder-Kuscheltiere feil – und freuen sich über ordentlichen Kundenzulauf. „Wir wollten etwas machen, das Beständigkeit hat,“ erklärt Beate Lenger. „Plastikschafe und kleine Tierchen für 1,99 interessieren uns einfach nicht. Unsere Sachen sollen Kinder ein ganzes Leben lang begleiten, nicht nur eine Saison.“ Schon mit dem Namen ihres Ladens – „Glaube und Wahrheit“ – wollen sie deshalb zeigen, dass ihnen bleibende Werte wichtig sind.  

Der Trend zum Handgearbeiteten beschränkt sich bei weitem nicht auf den Bezirk, es ist eine globale Entwicklung. Im Internet gibt es, neben den Vorreitern www.etsy.com (aus den USA) und www.dawanda.com (aus Berlin), inzwischen zahllose Marktplätze und Plattformen, auf denen sich Strickwütige und Näh-Junkies aus aller Welt austauschen, Materialen erwerben oder ihre Schätze zum Verkauf anbieten können. Sie heißen www.handmadekultur.de, www.hello-handmade.com, www.eigenwerk-magazin.de oder www.ravelry.com  – um nur einige zu nennen. Das 2009 gegründete Cut-Magazin (www.cut-magazine.de) gibt Do-It-Yourself-Tipps für Mode-Kreative. 

 

Enormer Nachholbedarf

 

Darüber freute sich auch Sigrid Henning. In den bescheidenen Anfangszeiten von „Loops“ konnte sie von dieser Trendwende natürlich nur träumen. „Es war überhaupt nicht abzusehen, dass sich das Blatt so zum Guten wenden würde. Angestellte oder so was – das lag damals ja in weiter Ferne. Inzwischen habe ich drei Halbtagskräfte und einen Lehrling.“ Auch im Sommer sind sie ausreichend beschäftigt, dann werden eben keine Merino-, sondern eher Baumwollgarne verkauft. Und zwar an immer jüngere Kundinnen – es sind nach wie vor hauptsächlich Frauen. “Inzwischen kommen schon die acht-, neunjährigen Mädchen, die hier im Bezirk groß geworden sind.“ Auch die Modedesignerin Henry Pogatzki vom „Nähraum“ in der Senefelderstraße erzählt von Zehnjährigen, die jetzt ihre Nähkurse belegen. „Die zwei Generationen davor konnten es einfach nicht mehr – weil sie es in der Schule nicht mehr gelernt haben. Da gibt es jetzt enormen Nachholbedarf. Meine Kurse werden zu 90 Prozent von Nähanfängern besucht,“ so Pogatzki.

Über die Gründe für das anhaltende Revival alles Selbstgemachten kann man nur spekulieren. Mancher, der dadurch Geld sparen konnte, wird sich vielleicht nach der Wirtschaftskrise auf das gute alte Handwerk besonnen haben. Wer seine Wohnung nicht teuer sanieren lassen kann, geht eben in den Baumarkt und macht es selbst; wem Bares für Designerkleidung fehlt, belegt einen Nähkurs. Sigrid Henning versteht die neue Rückbesinnung auf traditionelle Handarbeiten aber auch als bewusste Abwendung vieler Kunden von Konzernware, als Kritik an der „überspannten Logistik“ großer Unternehmen. „Vielleicht ist das sogar schon politisch.“ Wer ganz sicher sein will, dass sein neuer Pulli nicht von ausgebeuteten Kindern in irgendeinem Drittweltland produziert wurde, muss ihn sich womöglich tatsächlich bald selbst stricken. Übrigens gibt es bei „Loops“ auch Strickkurse. 

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