Per Anhalter durch die Wüste Gobi

von Brigitte Preissler 4. März 2014

25 Jahre nach dem Ende der DDR hat der Spiegel-Redakteur Peter Wensierski ein atemberaubendes Buch über die abenteuerliche Republikflucht zweier Studenten aus Prenzlauer Berg geschrieben.

Hier also wohnten Jens und Marie. In der Rykestraße 5 logiert heute ein Waxingstudio – Augenbrauen, Achseln, Bikinizone, die „brasilianische Heißwachsmethode“ verspricht Erlösung von lästiger Körperbehaarung. Polizisten bewachen die Synagoge schräg gegenüber, vom Spielplatz am Wasserturm schallt die kieztypische Geräuschkulisse. In diesem Haus lebten 1987 die beiden Protagonisten aus Peter Wensierskis neuem Buch „Die verbotene Reise.“

Da kommt der Autor die Straße entlang. Peter Wensierski, Jahrgang 1954, ist Redakteur des Spiegel, bekannt machten ihn unter anderem seine Berichte über die Missstände in der westdeutschen Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren („Schläge im Namen des Herrn“, Spiegel/DVA 2006). Als erstes erzählt er, dass er zwei Häuser weiter, im Haus Nummer 7, in den 80er Jahren gelegentlich Freunde besuchte, als jüngster westlicher Reisekorrespondent in der DDR. Beeindruckt habe ihn damals der Mut vieler Menschen, er berichtete über die aufkommende Oppositionsbewegung, besuchte den Bürgerrechtler Wolfgang Templin, nahm Fotos von Harald Hauswald aus der Kastanienallee mit in den Westen, traf auch Sascha Anderson in der Schönfließer Straße. Jens und Marie kannte er damals noch nicht. Sonst hätte er vielleicht schon früher einmal von ihnen erzählt, zum Beispiel in seinem Buch „Null Bock auf DDR – Aussteigerjugend im anderen Deutschland“ (1984, mit Wolfgang Büscher).

Begegnung in der Dunkelkammer

Ihre Geschichte aber hat ihm, wie er kurz darauf beim Kaffee berichtet, erst gut 25 Jahre später eine Bekannte erzählt. Anfang Zwanzig waren Jens und Marie, als sie damals hier lebten. Jens hatte sich bei dem bekannten Zoologen Günter Tembrock an der Humboldt-Uni für Biologie immatrikuliert, Marie studierte an der Kunsthochschule Weißensee. Eines Tages begegnen sie einander in einer Weißenseer Uni-Dunkelkammer. Jens zeigt Marie Fotos, die er von einer Reise in den Kaukasus mitbrachte, Marie ist schwer beeindruckt. Dass da einer einfach loszog und Tausende Kilometer weit reiste – wie war das möglich? Ohne Reisegruppe, ohne Sondergenehmigung?

Marie zieht bald bei Jens in der Rykestraße ein, die beiden werden ein Paar. Was sie verbindet, ist, dass sie mehr vom Leben erwarten als eine staatlich verordnete Mettstulle. Es macht sie glücklich, auf den Hausdächern spazieren zu gehen, die Turmfalken am Wasserturm zu beobachten. Sie finden es normal, in eine leerstehende Wohnung einzuziehen, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Briketts, die sie zum Heizen brauchen, nehmen sie heimlich vom Lastwagen des Kohlehändlers.

Außenklos und Zettel an den Türen

Schon in seinem Eingangskapitel über das Leben in Prenzlauer Berg wird deutlich, was Wensierski an der Geschichte gefällt: “Das sind keine gepeinigten Stasi-Opfer,“ sagt er. Was man, wie sich zeigen wird, gerade in Jens‘ Fall durchaus anders sehen könnte. Aber darum geht es Wensierski nicht: Er zeigt, wie Jens und Marie auf ihre Art versuchten, aufrecht und in Würde zu leben, Tag für Tag – als Bürger eines Staates, in dem das allerdings nicht vorgesehen war.

Ihr schlichtes, von staatlicher Beaufsichtigung zunächst vergleichsweise unbehelligtes Studentenleben beschreibt er unprätentiös und plastisch: Die Außenklos, die Zettel an den Haustüren, auf denen Besucher Nachrichten hinterließen, es gab ja keine Telefone. Für ein frisch verliebtes junges Paar muss das Künstler- und Studentenbiotop Prenzlauer Berg damals ein herrlicher Ort gewesen sein; hinter den verfallenden Fassaden war hier und da ein buntes, einander zugewandtes Leben möglich.

„Die DDR ging an sich selbst zugrunde“

Jens und Marie aber genügt das nicht, sie wollen reisen, in die Mongolei und dann weiter, am liebsten bis ins für DDR-Bürger verbotene China. Besonders Jens hat triftige Gründe für sein Fernweh: Die Stasi observiert ihn, denn der junge Biologe nimmt sich Freiheiten heraus, die ihm innerhalb des kommunistischen Systems nicht zustehen. So spricht er als freiberuflicher Referent vor Hunderten von Zuschauern über seine unerlaubten Reisen in den Kaukasus. Oder er erwähnt während eines Dia-Vortrags, wie gefährlich das in der DDR verwendete Insektenvernichtungsmittel DDT für den Menschen ist.

Es dauert nicht lange, und Jens wird exmatrikuliert. Zwei Jahre lang soll er sich in der Produktion bewähren, Vorträge darf er auch keine mehr halten. „Sein Beispiel macht deutlich, wie die DDR letztlich an sich selbst zugrunde ging,“ sagt Wensierski. „Sie hat sich ihre vermeintlichen Feinde selbst geschaffen. Wegen Nichtigkeiten wurden ganze Lebenswege zerstört.“

Gefälschte Einladung

Nichts wie weg also, beschließen Jens und Marie. Fragt sich nur, mit welchen Visa, welchen Pässen? Es gilt, die kommunistische Bürokratie auszutricksen, seit einer früheren Reise durch die UdSSR weiß Jens, wie das geht. Eine Schreibmaschine mit kyrillischen Buchstaben hilft beim Fälschen der Einladung: Ein mongolischer Bergsteigerverein bittet Jens und Marie zu einer alpinistischen Exkursion ins Altaigebirge.

Bei der Polizeiinspektion Prenzlauer Berg ist man beeindruckt, fühlt sich aber für Sportlervisa nicht zuständig und verweist deshalb weiter an die „Internationale Protokoll- und Reisestelle“ Weißensee. Dort überreicht die zuständige Sachbearbeiterin dem (selbst ziemlich überraschten) Jens ohne weitere Rückfragen zwei Reisepässe mit eingestempelten Visa für Mongolei und Sowjetunion. „Gültig für alle Länder, einschließlich Berlin (West).“ Weiterlesen im Teil 2

 

Teil 2 :“Am Ufer des Chöwsgöl Nuur“

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