Manchmal lag der Osten im Westen

von Brigitte Preissler 23. Oktober 2014

Unsere bildliche Wahrnehmung der DDR ist geprägt von der Arbeit ostdeutscher Fotorealisten. Wie aber sah das alte Prenzlauer Berg aus westdeutscher Sicht aus? Eine Ausstellung zum Werk Karl-Ludwig Langes und diverse Fotosammlungen ermöglichen neue Einblicke in die kritische Autorenfotografie aus West und Ost vor 1989.

Doch, natürlich gab es Farben in der DDR. Auch vor 1989 färbten sich in Prenzlauer Berg im Herbst die Blätter, mitunter strahlte der Himmel hellblau, und wenn es mal Bananen gab, waren sie nicht weniger gelb als im Westen Deutschlands. Unser Bild des alten Prenzlauer Bergs aber ist so ungemütlich grau wie die Gaststätte am Wasserturm, die Harald Hauswald 1982 aufnahm, und duster wie die Küche von Ekkehard und Wilfriede Maaß, wo Helga Paris im gleichen Jahr eine Lesung fotografierte.

Denn unsere Wahrnehmung des Arbeiter- und Bauernstaates ist geprägt von diesen ostdeutschen Fotorealisten: Von Hauswald und Paris, von Gundula Schulze-Eldowy und Bernt Heyden, von Arno Fischer, Roger Melis und Sibylle Bergemann, von Gerd Danigel, Eberhard Klöppel oder Ute Mahler. Sie alle fotografierten schwarz-weiß – aus ästhetischen Gründen, aber auch, weil sich die grobkörnigen, farbstichigen DDR-Farbfilme für die eigenhändige Herstellung von Papierabzügen kaum eigneten.

 

Bestandsaufnahme der kritischen DDR-Dokumentarfotografie

 

Im Leipziger Lehmstedt Verlag werden die Werke der genannten und vieler anderer bedeutender Fotografen seit Jahren liebevoll gepflegt. Mathias Bertram gab im Rahmen der Fotobuch-Reihe „Bilder und Zeiten“ immer neue, aufwändige Monografien heraus. 

Mit „Das pure Leben“ zieht Bertam nun erstmals eine Bilanz, auch seiner eigenen herausgeberischen Arbeit der letzten Jahre, und wagt sich an eine der gesamten DDR-Zeit gewidmete Anthologie der ostdeutschen Autorenfotografie. Im ersten Band zeigt er Aufnahmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit bis etwa 1975, im zweiten Bilder aus der Zeit zwischen 1975 bis 1990. Rund 350 Fotografien umfassen die beiden Bände insgesamt. Vorbilder für eine so umfassende Sammlung gibt es kaum: Als erste und bislang einzige Bestandsaufnahme der kritischen DDR-Dokumentarfotografie nennt Bertram hauptsächlich das von Günther Drommer und Roger Melis veröffentlichte Foto-Lese-Buch „Schau ins Land,“ das 1989 gleichzeitig im Osten bei Aufbau und im Westen im Luchterhand Verlag erschien.

 

Zuhause in Prenzlauer Berg

 

Die nun von Bertram gezeigten Bilder stammen, mit vier Ausnahmen, durchweg von ostdeutschen Künstlern, von denen etliche zu DDR-Zeiten zumindest zeitweise in Prenzlauer Berg lebten oder arbeiteten: Im Gespräch mit den Prenzlauer Berg Nachrichten erzählt Bertram etwa, dass Bernt Heyden in der Christburger Straße arbeitete und Eberhard Klöppel in der Schönhauser Allee. Helga Paris war schon damals in der Winsstraße zuhause, und auch Harald Hauswald ist dem Kiez bis heute treu geblieben. Oder Arno Fischer: Er hatte zu DDR-Zeiten ein Labor in der Gleimstraße. Wie berichtet, war er als Schirmherr seiner Studenten noch lange nach der Wende, bis zu seinem Tod 2011, in Prenzlauer Berg aktiv.

Durch sie wurde Prenzlauer Berg zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt der sozialdokumentarischen Straßen- und Porträtfotografie der DDR. Nicht von ungefähr finden sich deshalb vor allem im zweiten Band von „Das pure Leben“ etliche Motive aus dem Kiez. Eberhard Klöppel lichtete 1984 zwei Damen bei der Besichtigung einer noch im Rohbau befindlichen Musterwohnung im Thälmannpark ab, zwei Jahre später fotografierte er ein dort eingezogenes, stolz posierendes Ehepaar mit Katze vor seiner furnierten Wohnzimmer-Schrankwand. Sybille Bergemann nahm 1985 die „Ecke Schönhauser“ von oben auf, mit Blick in eine damals noch wenig einladende Kastanienallee. In der Lottumstraße küssten sich 1986 zwei, ein dritter sah, wenig begeistert, zu – Harald Hauswald war auch dabei und drückte auf den Auslöser. Ebenfalls in den 80er Jahren, als der U-Bahnhof Eberswalder Straße noch U-Bahnhof Dimitroffstraße hieß, fiel Jörg Knöfel ein Jugendlicher auf: Nachdenklich sah er durch die Deckenfenster in einen Himmel, der damals bekanntlich noch ein geteilter war.

 

Gegen-Bild zur offiziellen Propaganda

 

Von der Bildpolitik der staatseigenen, parteigeführten Bildagentur ADN-Zentralbild distanzierten sich diese Fotografen nachdrücklich; ihnen ging es um ein korrigierendes, realistischeres Gegen-Bild zur offiziellen Propaganda. Während die Bilder von sonnigen Traktorfahrerinnen und glücklichen Arbeitern, die in der Tagespresse und Illustrierten gezeigt wurden, der staatlichen Affirmation dienten, setzten die Fotorealisten auch müde oder kranke Menschen und heruntergekommene Straßenzüge ins Bild – obwohl es so etwas beim Aufbau des Sozialismus eigentlich gar nicht geben durfte. „Wir waren keine Widerstandskämpfer. Wir haben das pure Leben fotografiert.“ So formulierte es Arno Fischer, eine der Leitfiguren der unabhängigen Fotografie in der DDR, titelstiftend für Bertrams neue Bände.

Wie hochpolitisch dieses „pure Leben“ trotzdem sein konnte, merkte auch Jürgen Graetz, ein Schüler Fischers und seiner Ehefrau Sybille Bergemann, der gleichfalls zeitweise in Prenzlauer Berg tätig war. Viele seiner Bilder konnte er zu DDR-Zeiten nicht veröffentlichen; die leerstehenden Geschäfte, die ihm 1970 in Prenzlauer Berg vor die Linse kamen, wirkten beim Aufbau der neuen Gesellschaft nicht optimistisch genug. Und Fotos von Leuten, die 1984 in Prenzlauer Berg eine Ausreisefeier begingen, durften erst recht nicht an die Öffentlichkeit. Erst jetzt sind sie erschienen, in seinem im Mitteldeutschen Verlag publizierten Band „Stadt, Land, Leben“. 

 

Institutionelles Umfeld

 

Ein – freilich massiv eingeschränktes – institutionelles Umfeld gab es dabei für die kritische Autorenfotografie der DDR offenbar durchaus. Mathias Bertram nennt etwa den Studiengang Fotografie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, dort durchliefen Evelyn Richter, Ursula Arnold, Roger und Renate Rössing oder Friedrich Otto Bernstein ihre fotografische Ausbildung. In Berlin wirkte Arno Fischer an der Kunsthochschule Weißensee und als privater Mentor. Der Berliner Bezirksverband im Verband bildender Künstler verschaffte seit dem Ende der 60er Jahre immerhin vielen Fotografen die Zulassung zur freiberuflichen Tätigkeit, die ihnen andernorts – etwa in Leipzig – verwehrt geblieben wäre. Die Gesellschaft für Fotografie vergab Stipendien, „Das Magazin“ oder die Zeitschrift „Sibylle“ boten Freiräume, ebenso Kulturhäuser, Jugendclubs und Kirchen.

 

Freiheit von propagandistischen Rücksichten

 

Dem Zwang zur Illustration eines vorgefassten Weltbildes entgingen viele Fotografen auch, weil sie ihrer Arbeit zumeist freiberuflich nachgingen und dadurch keinen propagandistischen Rücksichten unterlagen. „Es ist meistens Freizeitfotografie, die neben der Erwerbstätigkeit stattfand,“ so Bertram. „Diese Leute hatten immer eine oder mehrere Kameras dabei –  wenn sie Schrippen holen gingen, oder ihr Auto in die Werkstatt fuhren. Sie fotografierten einfach alles, was ihnen schön oder bewahrenswert erschien.“

Es ist wohl kein Zufall, dass auch der westdeutsche Fotograf Karl-Ludwig Lange freiberuflich und ohne Auftrag in Prenzlauer Berg arbeitete, vor und nach 1989. Seine Arbeiten werden derzeit unter anderem im Museum Pankow ausgestellt, die Nicolaische Verlagsbuchhandlung hat einen Katalog dazu veröffentlicht (Infos s.u.). Weil sie außer Prenzlauer Berg auch den westlichen Teil der Stadt mit in den Blick nehmen, lohnt es sich besonders, Langes Aufnahmen parallel zu Bertrams Sammlung zu betrachten. 1967 kam Lange als 17jähriger aus Minden/Westfalen nach Berlin-West, volontierte bei der DPA, wagte 1973 die künstlerische Selbständigkeit. Er wollte damals sehr genau wissen, wie die Gebäude, Brachflächen, Ausflugslokale, Friedhöfe, Garagen westlich und östlich der Mauer aussahen. 

 

„Viel zu lachen gab‘s nicht“

 

Von einer Aussichtsplattform an der Bernauer Straße aus fotografierte er damals in das mutmaßlich fremde, andersartige, feindliche Terrain hinter dem Eisernen Vorhang hinein. Hier, wo die beiden gegensätzlichen politischen Systeme so unmittelbar aneinander grenzten, mag er maximale Abweichung und Differenz erwartet haben. Teilweise fand er sie auch; am eindrucksvollsten werden die Unterschiede in einer Serie aus dem Jahr 1978 offensichtlich. In Charlottenburg, an der Ecke Fasanenstraße/Kurfürstendamm, und an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg fotografierte Lange fast zeitgleich Menschen, die vor einer roten Ampel standen und darauf warteten, die Straße überqueren zu können.

Jeder Fotograf, der heute nach einem gelungenen Schnappschuss erst mühsam die Bildrechte der fotografierten Personen einholen muss, dürfte Lange um diese Porträtsituation beneiden. Er nutzte sie für eine ebenso schlichte wie vielsagende Gegenüberstellung: Hier die Leuchtreklame, die strahlenden Fassaden, die frisch ondulierten Frisuren, eine proper asphaltierte Straße. Dort das Kopfsteinpflaster, die abgetragene Mäntel, die müden Gesichter. Dahinter Grau, Grau, und nochmals Grau. „Viel zu lachen gab‘s nicht,“ so Langes Kommentar bei der Ausstellungseröffnung.  

 

Überraschende Gemeinsamkeiten

 

Das aber galt offensichtlich für diesseits wie jenseits der Mauer. Denn bei allen erwartbaren Unterschieden halten die Fotos, die Lange zwischen und 1973 und 2004 in Wedding und Prenzlauer Berg aufnahm, auch erstaunliche Gemeinsamkeiten fest. So zieht auf einem undatierten Bild ein älterer, ärmlich gekleideter Mann mit Foxterrier seinen Leiterwagen eben nicht durch das heruntergekommene Proletarierviertel Prenzlauer Berg, wie man, konditioniert durch die Bildsprache des ostdeutschen Fotorealismus, zunächst vermuten mag. Nein, der Mann geht durch die Lynarstraße in Wedding. Und in den türkischen Schaufenstern in der Stettiner Straße, ebenfalls Wedding, lagen zwar allerhand Siemens-Bügeleisen und tragbare Sharp-Kasettenrecorder aus. Doch die Häuser, die sich in der Scheibe spiegelten, wirkten kein bisschen weniger verwahrlost als die auf der anderen Seite der Mauer. Man merkte dem Wedding eben noch lange an, dass er in einer Stadt lag, die einmal aus der Luft versorgt wurde.

„Der Gesundbrunnen sah auch nicht anders aus als die Schönhauser Allee,“ so Lange bei der Vernissage. „Die Substanz der ganzen Stadt ist mit dem 2. Weltkrieg stehengeblieben.“ So zeigen seine Bilder, dass die beiden politisch separierten Teile der damaligen Inselstadt einander in mancherlei Hinsicht viel näher waren als der Westteil dem westlichen, der Ostteil dem östlichen Umland. 

 

Gesamtdeutscher Zusammenhang

 

Wie hätten wohl die ostdeutschen Fotorealisten seinerzeit den Wedding fotografiert? Wer Langes Bilder betrachtet, kann vielleicht auch ihre Werke leichter in einem gesamtdeutschen Zusammenhang sehen. Der heute extrem verwestlichte Prenzlauer Berg zumindest scheint schon vor 1989 gar nicht so ostig gewesen zu sein wie gedacht. Uns, seinen heutigen Bewohnern, zeigen die alten Fotos den vertrauten Kiez trotzdem unendlich anders und befremdlich – gerade das macht sie ja so kostbar. Die Veränderungen der vergangenen 25 Jahre, die sich in Prenzlauer Berg vielleicht gründlicher als an den allermeisten Orten in Berlin, ja womöglich in ganz Deutschland vollzogen haben, führen diese Schwarz-Weiß-Fotos jedenfalls mit Sicherheit eindrücklicher vor Augen als jede Gentrifizierungs-Polemik, jede historische Abhandlung und jedes Mauerfall-Gedenk-Event.

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Buchinfos:
Mathias Bertram: Das pure Leben. Band 1: Die frühen Jahre. 1945-1975. Lehmstedt Verlag 2014, 200 Seiten, 24,90 Euro. Band 2: Die späten Jahre. 1975-1990. Lehmstedt Verlag 2014, 200 Seiten, 24,90 Euro.

Jürgen Grätz, Beate Teubert: Stadt, Land, Leben. Fotografien aus der DDR 1967-1992. Mitteldeutscher Verlag 2014, 160 Seiten, 24,95.

Karl-Ludwig Lange, Der Photograph in seiner Zeit. Berliner Jahre 1973-2004. Hg. v. Matthias Harder für die Kommunalen Galerien und Berliner Regionalmuseen. Nicolaische Verlagsbuchhandlung 2014, 200 Seiten, 34,95 Euro.

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Die Ausstellung von Karl-Ludwig Lange, Der Photograph in seiner Zeit. Entlang der Mauer zwischen Wedding und Prenzlauer Berg 1973-2004 ist noch bis 11. Januar 2015 im Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner in der Prenzlauer Allee 227/228 zu sehen. Geöffnet Montag bis Freitag 9-19 Uhr, Samstag und Sonntag 10-18 Uhr, feiertags geschlossen, Eintritt frei.

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