Der Wolf heult auf Knopfdruck

von Brigitte Preissler 14. März 2014

Die insgesamt sehr sehenswerte Märchenausstellung im „MACHmit! Museum“ wird der Gattung zwar nicht wirklich gerecht. Aber das Hexenhaus ist großartig, und es gibt tolle rote Clogs zum Anprobieren.

Jeder weiß, dass der Wolf, genau wie der Fuchs, seit einigen Jahren wieder heimisch wird in Deutschland. Aber wenn man plötzlich vor einem echten steht, mitten in Prenzlauer Berg, bleibt einem trotzdem kurz die Luft weg. Eine Armlänge entfernt, schaut er mir in die Augen, stolz, fast herablassend. Womöglich sogar respektgebietend. So kommt es mir zumindest vor.

Dabei ist das Tier bloß ausgestopft. Ein Museumsmitarbeiter drückt einen Knopf, es ertönt Wolfsgeheul. Trotzdem, ich bin beeindruckt. Sicher liegt es daran, dass ich als Kind zu viele Märchen gelesen habe, die verbreitete Dämonisierung des mythenbeladenen Tiers hat auch bei mir ihre Spuren hinterlassen. Wissenschaftler würden wohl vom „Rotkäppchensyndrom“ sprechen.

 

„Fressen Wölfe gar keine Menschen?“

 

Gelassen wirkt dagegen meine sechsjährige Tochter. Mit ihr sehe ich mir die aktuelle Märchenausstellung im „MACHmit! Museum für Kinder“ an. „Sieht wie ein Hund aus,“ findet sie achselzuckend. Stimmt: Der kanadische Grauwolf, eine Leihgabe der Städtischen Sammlung Cottbus, ähnelt einem kräftigen Husky. Mein Kind findet die benachbarte Vitrine viel spektakulärer. Darin befindet sich die Losung eines Wolfs – inklusive etlicher Fellreste, die dem Wolfsexperten verraten, was das Tier zuletzt gefressen hat. Nach dem ersten spontanen Entsetzen („Äh, Mama! Ist das etwa Kacka!“) macht sich eine überraschende Einsicht breit: „Fressen Wölfe gar keine Menschen?“ – „Nein,“ antworte ich mit Blick auf die erklärende Grafik, „lieber Rehe und Wildschweine.“ Da flitzt sie schnell weiter, Richtung Hexenhaus.

Die Ausstellung befasst sich ausschließlich mit Märchen der Brüder Grimm. Deren Kurzbiografien habe ich meiner kleinen Begleiterin schon am Eingang vorgelesen: 1785 und 1786 wurden Jacob und Wilhelm in Hanau geboren, studierten Jura, erfanden die Germanistik. Und sammelten eben die Märchen. Ein Plakat zeigt das Titelbild der Erstausgabe ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812. Spätere Ausgaben machten das Werk, neben der Lutherbibel, zu einem der erfolgreichsten deutschen Bücher aller Zeiten.

 

Rote Clogs zum Anprobieren

 

Auch das notorische „Es war einmal …“ fehlt nicht. In Gestalt eines riesigen Fraktur-Schriftzugs begrüßt es die Besucher. Man könnte das als grobe Vereinfachung kritisieren, fängt doch bei weitem nicht jedes Grimmsche Märchen so an. Uns ist das erstmal egal. Denn dieses „Es war einmal …“ kennt nun mal jedes Kind, auch meins. Und beruht nicht der Zauber jedes Märchens gerade auf diesem hohen Wiedererkennungswert?

Den Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ zum Beispiel liebt jedes romantisch veranlagte Mädchen, obwohl – oder vielleicht gerade: weil es sämtliche Dialoge in- und auswendig kennt. Er flimmert in einer nachgebauten alten Küche aus einer großen Truhe. Neben dem Holzofen darf man Linsen und Erbsen sortieren, in einer kleinen Nische hängen drei schmucke Glitzerkleider. Alle Schaustücke dürfen ausgiebig angefasst und ausprobiert werden – deshalb heißt das „MACHmit! Museum“ schließlich „MACHmit! Museum“. „Welche Schuhe passen dir?“, steht auf einem gut gefüllten Schuhregal, meine Tochter testet die roten Clogs.

 

„Wer an der Christrose riecht, bekommt Sommersprossen.“

 

Mir gefallen die Fotoarbeiten von Studenten der Ostkreuz-Schule für Fotografie. Magali Fuhs-Balster hat zum Thema „Dornröschen“ dreizehn Porträts von Frauen in Alltagskleidung aufgenommen. Aber welche ist die böse Fee? Meine Tochter zeigt auf eine Dunkelhaarige mit Brille und rot lackierten Fingernägeln. Das wäre jetzt wohl der ideale Moment für ein pädagogisches Gespräch über Vorurteile. Wenn da bloß nicht noch so viele andere hochinteressante Schaustücke wären. Im ersten Stock werden zum Beispiel die UN-Kinderrechte erklärt. Meine Tochter schließt daraus, dass sie einfach die Polizei anrufen müsste, falls wir auf die Idee kämen, sie im Wald auszusetzen wie Hänsel und Gretel.

In ihrem Lieblingsexponat, dem Hexenhaus, hängen getrocknete Kräuter von der Decke, in einem Schrank drängen sich Fläschchen und Döschen, Knochen und Federn. Zeichnungen von Pflanzen klären über die ihnen einst zugesprochene Wirkung auf, „Wer an der Christrose riecht, bekommt Sommersprossen.“ Wir erfahren auch, dass manche Kräuterweiblein ihren Zeitgenossen allein deshalb seltsam vorkamen, weil sie sich regelmäßig mit Seife wuschen und deshalb seltener krank wurden. Auch einen Ofen gibt es, und einen Käfig.

 

Kein „Sindbad“, keine „Schneekönigin“

 

„Die kleine Meerjungfrau“ vermissen wir in der Ausstellung allerdings schon. Ebenso die „Schneekönigin“ (beide Andersen). Kein „Kleiner Däumling“ (Bechstein), kein „Kleiner Muck“, kein „Kalif Storch“, kein „Zwerg Nase“ (Hauff). Kein „Sindbad“ (Märchen aus Tausenduneiner Nacht). Keine afrikanischen, indischen, indianischen Märchen. Warum eigentlich? „Wir haben uns auf die Grimmschen Märchen reduziert, um eine Sache intensiver zu betreiben,“ sagt die Projektleiterin Uta Rinklebe, „Wir wollten ja auch die Kinderrechte und aktuelle Bezüge durch die Fotografien der Studenten der Fotoschule Ostkreuz einbeziehen.“

Ein Erklärtext will uns nun aber weismachen, Märchen seien nie aus der Mode gekommen. Das ist schlicht Unfug. Erst im Grimm-Jubiläumsjahr 2012 nannte die damalige Familienministerin Kristin Schröder die Grimmschen Märchen „sexistisch“, weil es darin kaum positive Frauenfiguren gebe. Nach 1945 wurden sie als schulisches Lehrmaterial von der britischen Besatzungsmacht sogar verboten. Die Westalliierten fürchteten ein Wiedererwachen des nationalsozialistischen Geistes, den sie in den Märchen verkörpert sahen. Und auch in den 70er Jahren passte die pädagogische Erzählform vielen Eltern nicht, ihre Kinder sollten angst- und gewaltfrei aufwachsen.

 

Siedendes Pech aus Plastik

 

Allmählich rehabilitiert wurde das Märchen erst, seitdem der amerikanische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim 1976 schrieb: „Kinder brauchen Märchen.“ Zumindest die an diesem Sonntag zahlreich im Museumscafé sitzenden Eltern scheinen das bis heute so zu sehen. Und das, obwohl im Erdgeschoss aus einer großen Tonne siedendes Pech aus Plastik auf ihre Kinder herabfällt. 

Meine Tochter findet diesen Ausgang von „Frau Holle“ übrigens absolut gerecht. Pechmarie und ihre doofe Mutter sind halt einfach zu fies. So ist das eben im Märchen: Die Guten hier, die Bösen da. Für Erstere gibt es das Happy End, Letzteren geht es an den Kragen. An diesem immer gleichen Erzählschema liegt es wohl, dass Märchen den meisten Kindern keine Angst machen, auch wenn sie von Kannibalismus erzählen (Hänsel und Gretel) oder von Verstümmelungen (Aschenputtel). Genau wie wir Erwachsenen bei fast jedem „Tatort“, wissen die Kinder eben schon vorher, wie die tausendmal gehörte Geschichte ausgeht, selbst wenn die Oma aus Braunschweig sie ein bisschen anders erzählt als die im Osten sozialisierte Kita-Erzieherin.

 

Die poetische Sprache schafft Abstand

 

Uta Rinklebe sieht das ähnlich: „Märchen schüren keine Ängste, sondern geben Ängsten eine Gestalt, ein Bild, wie zum Beispiel den Wolf. Sie fordern dazu heraus, sich mit Konflikten und Unbequemem zu beschäftigen, aber ihr Ausgang ist stets positiv. Alle Kinder, alle Menschen haben Ängste, denn die Welt ist komplex und oft sehr verwirrend. Manchmal wirkt das Leben bedrohlich. Wenn Ängste benannt werden können, eine Gestalt erhalten, dann kann man mit ihnen aktiv umgehen und hat die Möglichkeit, sich von ihnen zu lösen.“

Sicher ist, Kinder mögen Märchen. Weil sie sie als Fiktionen erkennen. Weil sie verstehen, dass da etwas Erfundenes erzählt wird. Genau darauf will auch diese für Kinder und Eltern sehenswerte Ausstellung hinaus. Sie heißt nicht umsonst „Erzähl mir doch (k)ein Märchen.“ Uta Rinklebe erklärt: „Am Märchen kann trainiert werden, wie auch mit Ängsten und unangenehmen Situationen oder Eigenschaften umgegangen werden kann. Dabei schafft die poetische, alte Sprache einen angenehmen Abstand. Sie hebt das Märchen auf die Ebene des nicht Alltäglichen.“ Meine Tochter weiß jedenfalls ganz genau, dass die Märchenwelt nicht das richtige Leben ist. Und mir wird jetzt endlich klar, wieso der ausgestopfte Wolf sie dermaßen kalt lässt: Sie muss ihn für ein Steiff-Tier halten.

 

„Erzähl mir doch (k)ein Märchen!“ noch bis 07.12.2014 im MACHmit! Museum für Kinder, Senefelderstraße 5, geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, montags geschlossen, Eintritt für Kinder ab 3 und Erwachsene 5,50 Euro, ermäßigt (ab 2) 3,50 Euro.

 

 

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