Gott in der Schönhauser Allee

von Brigitte Preissler 9. April 2014

Jens Harder erschafft die Welt noch einmal: In einer Comic-Trilogie erzählt er die Geschichte der Evolution vom Urknall bis heute. Ist das Wagemut oder schon Hybris? Bei einem Besuch in seinem Atelier fanden wir heraus, wie sein prometheisches Langzeit-Projekt entsteht.

Passt das Universum zwischen zwei Buchdeckel? Lässt sich das wirklich alles von Anfang an erzählen: Die Entstehung der Welt vom Urknall bis heute?

Fragen wir ihn: Jens Harder, 1970 in Weißwasser geboren, ist unter den deutschen Comiczeichnern zur Zeit mit Sicherheit der Innovativste. Denn genau das ist sein Plan: Die Geschichte der Evolution zu erzählen. Oder genauer, zu zeichnen. Sein Schreibtisch steht in einem dieser gemütlichen Comiczeichner-Nester, von denen es in Prenzlauer Berg so viele gibt, das Atelier in der Schönhauser Allee teilt er sich unter anderem mit Tim Dinter. Wobei „Atelier“ ein großes Wort ist für die spartanisch möblierten, WG-artig genutzten, unsanierten Arbeitsräume mit Blick auf den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportplatz.

 

Der Gott seines eigenen Comics

 

Hier jedenfalls entsteht Harders gigantisches, auf insgesamt drei Teile („Alpha“, „Beta“, „Gamma“) und vier Bände („Beta“ ist zweibändig) angelegtes Projekt. 2010 erschien „Alpha“ in deutscher Sprache. Allerdings erst, nachdem sich zuvor bereits ein französischer Verlag an die Edition des Bandes gewagt hatte. 360 Seiten Naturgeschichte, ganz ohne Plot und Protagonisten – ein beispielloses Vorhaben. „Ich wollte etwas lesen, das es noch nicht gab,“ so Harder. Dass der Carlsen Verlag dieses verlegerische Risiko dann doch noch einging, wurde indes bald mit einer Reihe wichtiger Auszeichnungen belohnt. Nicht nur in Deutschland mit dem Max-und-Moritz-Preis, sondern auch beim international bedeutendsten Comicfestival im französischen Angoulême. Dort erhielt Harder 2010 den Prix de l‘audace – also den Preis für künstlerischen Wagemut.

Wagemut? Man kann es auch Besessenheit nennen. Der jetzt erschienene erste Band von „Beta“ beginnt mit dem Aussterben der Dinosaurier und endet mit dem Beginn unserer Zeitrechnung um 0.01 Uhr am Tag nach Christi Geburt. Dazwischen lässt Harder aus rattenartigen, unscheinbaren Baumbewohnern eine neue Mammalia-Ordnung entstehen, aus der sich wiederum mit den Affen die Ahnen der späteren Menschen entwickeln. So erschafft Harder als auktorialer, omnipräsenter und -potenter Erzähler Seite für Seite den Menschen zum zweiten Mal – gewissermaßen als Gott seines eigenen Comics.

 

Vom Feuer zur Atombombe

 

Dabei hält er sich in einem umspannenden Erzählbogen zwar an die vorgegebene Chronologie: Tertiär, Frühgeschichte, Altertum. Durch rasant eingesetzte Bildmontagen schlägt er aber immer wieder weite Brücken von der Vorzeit in die Gegenwart. So zeigt er zum Thema „Sammeln“ die Früchte und Vorräte früher Hominiden – und daneben eine Armada von Briefmarken und Matchbox-Autos, auf der gleichen Seite nimmt Dagobert Duck ein Bad in seiner Taler-Sammlung. Ebenso führt ein direkter Weg von der ersten Zähmung der Naturgewalt Feuer zur Atombombe.

„Ich vergleiche gern, ich spule gern zurück,“ sagt Harder, der Kommunikationsdesign an der Kunsthochschule Weißensee studierte und sich das erdgeschichtliche Wissen autodidaktisch aneignete. Schon als Kind war er Stammgast in Saurierparks, sammelte mit seinem Vater Fossilien an der Ostsee und Kristalle im Erzgebirge. Die Beschäftigung mit dem mühseligen vorzeitlichen Leben unserer Ahnen betrachtet er auch als ein Lehrstück in alltäglicher Demut: „Es ist so sinnlos, sich zu ärgern, bloß weil man zum Beispiel keine Stuckdecken hat. Ein warmer, heller, trockener Raum zum Arbeiten ist keine Selbstverständlichkeit.“

 

Manchmal klopft Reinhard Kleist ans Fenster

 

Und auch nicht immer bezahlbar, schon gar nicht in Prenzlauer Berg. Doch Jens Harder gehört zu den seltenen Menschen, denen es trotz aller Veränderungen kein bisschen peinlich ist, in diesem Kiez zu leben. Im Gegenteil: Als 2010 seine vorherige Ateliergemeinschaft in der Lettestraße wegen der bevorstehenden Sanierung gekündigt wurde, wollte er auch mit dem neuen Atelier unbedingt in der Gegend bleiben. Der Freunde und Familie wegen, nicht zuletzt aber auch wegen seiner seit zwölf Jahren gewachsenen beruflichen Kontakte.

Ulli Lust, Mawil und Tim Dinter zum Beispiel arbeiten hier, mit ihnen und anderen gründete Harder einst die Gruppe Monogatari. Für Comiczeichner ist und bleibt der Kiez eben ein gutes Pflaster, Harder hat auch einen guten Draht zum Supalife-Kiosk in der Raumerstraße. Und er mag es, wenn einer der zahlreichen in der Nachbarschaft werkelnden Zeichner, zum Beispiel Reinhard Kleist, sich spontan aufs Rad schwingt und an seinem Parterrefenster anklopft – weil er vielleicht ein Bier trinken gehen will, oder eine Frage zu Photoshop hat.

 

Darstellung der Darstellung der Evolution

 

Viel Zeit für solche Ablenkungen hat Harder allerdings nicht. Für eine Doppelseite braucht er eine Woche. Er zeigt uns, wie er arbeitet: Seine Bildvorlagen sind Schwarz-Weiß-Kopien von Illustrationen wissenschaftlicher Werke, von Gemälden oder Höhlenmalereien, er verwendet Filmstills, Zeichnungen, Comics aller Art. Eine der wichtigsten Quellen sind die Werke des tschechischen Zeichners Zdeněk Burian (um die sich derzeit übrigens auch der Prenzlauer Berger Verlag Matthes & Seitz in einer aufwändigen Edition kümmert). Schon das Einholen der Bildrechte muss ihn Monate gekostet haben. Aus diesen teilweise wenig bekannten, teils kanonisierten Ikonen montiert er den späteren Seitenaufbau. Die Umrisse paust er mit Bleistift ab, bevor er jedes Panel mit eigenem Strich durchzeichnet. Koloriert wird später am PC.

Somit besteht „Beta“ tatsächlich durchgehend aus fremdem Bildmaterial. Harder stellt nicht einfach die Evolution dar, sondern, wie er im Nachwort selbst betont, die Darstellung der Evolution. Kein einziges Motiv stammt von ihm selbst, der Comic-Gott Harder ist eine Art DJ – er schneidet aus, mixt und kompiliert.

 

Zwei Seiten Bildnachweis

 

Wer ihn darauf anspricht, spürt, dass Harder erstaunlicherweise sofort in die Defensive geht. Die Auswahl, die Anordnung seien sein Werk, betont er dann, und sein fast rechtfertigender Ton ist angesichts seiner monumentalen Arbeit regelrecht beschämend. Er rührt aber daher, dass Harder für die beschriebene Montagetechnik Plagiatsvorwürfe kassierte, als kurz nach dem Erscheinen von „Alpha“ die Plagiatsdiskussion um Werke von Helene Hegemann oder Karl-Theodor zu Guttenberg in den Medien hochkochte. Harder sicherte sich also ab – die Bildnachweise in „Beta“ füllen zwei kleinstbedruckte Seiten.

Bevor er sich an den zweiten „Beta“-Band macht, der ca. 2020 erscheinen soll, braucht Harder jetzt erstmal ein Jahr Pause. Inzwischen widmet er sich dem Gilgamesch-Epos. Die Evolutions-Trilogie aber darf man mit Fug und Recht schon jetzt als sein Lebenswerk bezeichnen. Denn ein wenig länger als sieben Tage wird er insgesamt wohl schon daran gearbeitet haben, wenn „Gamma“ irgendwann Mitte der 2020er Jahre in einer fernen Zukunft angekommen und damit abgeschlossen ist. Comic-Fans sollten die Zeit bis dahin unbedingt nutzen, um Gott für die bislang vorliegenden beiden Bände zu danken. Also dem echten Gott jetzt. Jens Harder ist nämlich eh Atheist.

Jens Harder: 

– Alpha. Carlsen, Hamburg 2010, 360 Seiten, 49,90 Euro.
– Beta. Teil 1. Ebd. 2014, 368 S., 49,90 Euro.

 

 

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