Schmalzstullen und Westmusik

von Susanne Grautmann 6. Oktober 2015

Wilfried Bergholz lebt seit über 30 Jahren an der Schönhauser Allee. In seiner Autobiografie erzählt er aus seinem Leben als Schallplattenunterhalter in der DDR in den 1970er- und 80er-Jahren.

Ein Abend im Club Impuls an der Czarnikauer Straße wollte gut vorbereitet sein. Da wurden Colaflaschen vom Konsum rangeschafft, Schmalzstullen geschmiert und die roten Glühbirnen reingedreht. Bevor es losgehen konnte, musste der DJ, pardon, der Schallplattenunterhalter, noch die Playlist mit der vorgeschriebenen Mischung aus DDR- und Westmusik erstellen. Denn der Club Impuls, der „Club für die Mittzwanziger“ in Prenzlauer Berg, wurde wie allen anderen Jugendklubs von der FDJ verwaltet. Und die Quote verlangte 60 Prozent DDR- Musik.

Gespielt wurden trotzdem neunzig Prozent Westmusik. Denn der real existierenden sozialistischen Jugend gingen die Hits von Stevie Wonder und den Beach Boys nun mal mehr in die Beine als die von Manfred Krug und Pension Volkmann. So erzählt es jedenfalls Wilfried Bergholz in seiner gerade im Eigenverlag veröffentlichten Autobiographie „Die letzte Fahrt mit dem Fahrrad“. Und Bergholz muss es wissen: er war selbst Schallplattenunterhalter im Club Impuls.

 

Hits made in GDR

 

Die vorgesehene Mischung sei höchstens alle zwei Jahre mal auf den Plattenteller gekommen. Dann nämlich, wenn die DJs ihre Spielerlaubnis verlängern lassen mussten. Kam die Kontrolle, rasteten die Gäste ausnahmsweise mal zu den Hits made in GDR aus. Anschließend drehten sich dann wieder The Police und David Bowie auf den Plattentellern.

Es sind Szenen wie diese, mit denen Bergholz das Leben im Prenzlauer Berg der späten siebziger und der achtziger Jahre in seiner Autobiographie auferstehen lässt. Bergholz erzählt darin von seinem und dem Leben seiner Weggefährten im Prenzlauer Berg der Vorwendejahre. „Ich möchte nicht zulassen, dass die Geschichten all dieser Leute und die Erinnerung an sie mit ihnen sterben“, sagt Bergholz, der in Greifswald geboren ist und mit 17 Jahren nach Ostberlin kam.

 

Ein Buch für die „Neubürger“

 

Seine Autobiographie richtet sich explizit an all die „Neubürger“, die Prenzlauer Berg seit der Wende bevölkern. Besonders an die, die aus Westdeutschland hierher gekommen sind. Bergholz glaubt, dass sie zu wenig über die jüngste Vergangenheit ihrer neuen Heimat wissen und dass ihr Bild vom Leben in der DDR zu einseitig ist.

Deswegen erzählt er seine Geschichten aus den Klubs in Prenzlauer Berg, von den Musikern, Schriftstellern und Fotografen, die hier lebten, und schildert, welche Freiräume sich im Alltagsleben der DDR-Bürger auftaten. Den Club Impuls gibt es inzwischen nicht mehr. „Das Leben hier war sehr bunt“, sagt er.

Dabei leugnet er nicht, dass die DDR ein Unterdrückungsstaat war. Er selbst hat 1988 nach einer politischen Aktion im Gefängnis gesessen. Drei Tage Dunkelhaft im Keller der damaligen Polizeiwache am Senefelder Platz. Während der ganzen Zeit sprach keiner ein Wort mit ihm, nur die Klappe in der Zellentür öffnete sich alle sechs Stunden für eine Leberwurst-Stulle.

 

Hoffnung auf den Wandel

 

In seiner Autobiographie erzählt Bergholz aber auch von der Hoffnung auf einen Wandel in der DDR. Eine Wiedervereinigung der beiden Deutschlands oder gar die Einführung des Kapitalismus seien dabei gar nicht das Ziel gewesen. „Es gab so viel Lebenswertes in der DDR und keiner, der in der DDR-Opposition mitgearbeitet hat, dachte auch nur im Entferntesten daran, diese Vorzüge aufzugeben; ich kann mich auch an keine Oppositionsgruppe erinnern, die sich für die Einführung des Kapitalismus eingesetzt hätte. Es ging immer um die Verbesserung der DDR, gegen die Alleinherrschaft der SED, gegen die Unterdrückung Andersdenkender und für den Frieden“, schreibt er.

Gewidmet hat er seine Autobiografie seinen Söhnen. Der Untertitel des Buches lautet: „19 Gespräche mit Matteo über Mut, Glück und Aufbegehren in der DDR“. Matteo ist Bergholz’ jüngster Sohn. Und so ist seine Autobiografie eben ein sehr persönliches Buch geworden, in dem Bergholz auch seine Familiengeschichte erzählt und seine politischen Ansichten kundtut.

 

Wie bewegte man sich auf der erodierenden Bausubstanz auf den Gehwegen?

 

Wer sich auf die persönliche Perspektive und den eher alltagssprachlichen Stil des Buches einlassen mag, kann einen Einblick in das alltägliche Leben in Prenzlauer Berg in den Vorwendejahren gewinnen. Wie kam man an eine Wohnung, wo traf man sich, wie bewegte man sich angesichts der erodierenden Bausubstanz auf den Gehwegen?

Gut möglich, dass der ein oder andere Neubürger aus Prenzlauer Berg bei der Lektüre realisiert, wie wenig er eigentlich über den Ort weiß, den er jetzt sein Zuhause nennt. Zumindest die Verfasserin dieser Zeilen hat erst aus Bergholz’ Buch erfahren, dass in dem Taschengeschäft vorne in ihrem Haus bis in die achtziger Jahre ein Jugendklub war. Bergholz hat dort jede Woche aufgelegt.

 

Am Mittwoch, den 07.10.2015, liest Wilfried Bergholz um 20.00 Uhr in der Bibliothek am Wasserturm aus seinem Buch „Die letzte Fahrt mit dem Fahrrad“. Er wird musikalisch begleitet von dem Prenzlauer Berger Liedermacher Arno Schmidt. Der Eintritt ist frei.

Weitere Informationen bei Anne Rüster Tel.: 030 90295-3921, anne.ruester@ba-pankow.verwalt-berlin.de

 

Wir sind eine werbefreie Mitgliederzeitung. Unsere (zahlenden) Mitglieder machen unsere Arbeit überhaupt erst möglich. Bitte werden Sie jetzt Mitglied und unterstützen Sie uns: Hier geht es lang! Vielen Dank!

Wenn Sie schon Mitglied sind, können Sie den Link unten im Kasten teilen und diesen Artikel so Ihren Freunden zum Lesen schenken.

Das könnte Dich auch interessieren

Hinterlasse einen Kommentar