Hinter des Prenzlauer Bergers Fassade

von Anja Mia Neumann 3. Februar 2015

Ausgerechnet eine Schwäbin weiß, was in den Prenzlauer Bergern vorgeht. Ihr Fazit: Vieles ist nur schöner Schein. Es mangelt an Geld, Gesundheit und Gemeinschaft.

Renate Stark kann nicht nur zuhören, sondern auch erzählen. Und das eindringlich und schnell, mit schwäbischem Dialekt und von dem, was die Prenzlauer Berger in ihrem Innersten bewegt. Davon hat die 56-Jährige eine Ahnung wie kaum ein anderer im Stadtteil: Seit 23 Jahren arbeitet sie als Seelsorgerin bei der Caritas in der Dänenstraße und wurde mit der Bezirksmedaille ausgezeichnet.

 

Frau Stark, was sind die Probleme der Prenzlauer Berger?

„In Prenzlauer Berg wird ganz stark darauf geachtet, wie man von außen aussieht. Auch wenn ich fast nichts mehr zu essen habe: Ich finanziere die teure Wohnung und kann hier bleiben.“

 

Kaum bekommt Stark ein Stichwort, legt sie los. Redet mit kräftiger Stimme. Schnell wird klar: Stark liebt ihren Job, lebt für ihn. Und empört sich auch nach 23 Jahren noch über das, was ihr nicht gefällt.

„Die Wahrheit ist, dass wir hier viele Künstler mit wenig Geld haben. Dass wir hier ganz viele haben, die sich mit kleinen Läden selbstständig machen und dass sie kaum überleben können. Wir haben hier Menschen, die zu Hause nähen, schneidern, kreative Sachen machen. Wir haben Maler, die versuchen, in viel zu teuren Wohnungen weiterzumalen. Grafiker und Cutter, die nicht mehr ein noch aus wissen, weil es keine Festanstellungen mehr gibt.“

 

Solche Geldprobleme erwartet man ja in Prenzlauer Berg weniger.

„Statistisch sind wir ja auch ein reicher Stadtteil. Deshalb glauben es vielleicht viele nicht. Und du nimmst es ja auch nicht so wahr.“

 

Und dann fällt es: das böse Wort mit dem Vergleich zu einem italienischen Kaffee.

„Wenn du durch Prenzlauer Berg läufst, da sieht man dann wirklich eher diese Latte-Macchiato-Eltern. Weil die auch so gern die Straßen lang laufen und so gewichtig tun: »I am very important, I have a child.« Dadurch wird das Bild beherrscht.“

 

Egozentrische Satelliten-Eltern sind nicht so Starks Ding. Erst recht nicht, wenn sie mit ihren Kinderwagen den Gehweg versperren. Dann wird ihre Stimme ruhiger.

„Aber das ist nicht die Wahrheit von Prenzlauer Berg. Es gibt massenhaft Familienprobleme und Trennungsprobleme, die wir besprechen. Es gibt hier viele allein erziehende Mütter, von denen erwartet wird, dass sie alles packen. Allein erziehende Väter werden häufiger von den Frauen umgarnt, ist meine Erfahrung. Denen wird mehr abgenommen.“

 

Stark hat Tausende Menschen beraten: Pro Jahr führt sie rund 3000 Gespräche mit 1000 Hilfesuchenden. Einige von ihnen kommen seit DDR-Zeiten.

„Es gibt auch Familien in Prenzlauer Berg, die viele, viele Kinder haben. Fünf bis acht Kinder gibt es mehrmals. Auch wenn viele das nicht für möglich halten. Die kommen wegen Problemen in der Schule oder Pubertätsproblemen, oder weil sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder auf eine Ferienreise mitschicken sollen.“

 

Jetzt holt Stark aus und redet ohne Punkt und Komma. Um Beispiele zu nennen. Davon kennt sie Hunderte. Wenn nicht mehr.

„Das meiste sind wie überall alltägliche Fragen. Eine 88-Jährige, die sich auf Kaffeefahrten hat Sachen aufschwätzen lassen und jetzt kein Geld mehr hat ihren Strom zu zahlen, weil die Veranstalter gut abbuchen. Oder ein 74-jähriger Rentner kriegt eine Rente, die knapp 20 Euro über der Grundsicherung ist und seine Waschmaschine ist kaputt und er weiß nicht weiter. Oder ein Künstler, der aussieht als komme er direkt vom Montmartre in Paris mit weißem Haar und schwarzem Käppi, kann sein Kohlegeld nicht mehr zahlen. Und dann kommen auch Leute, die richtig Geld haben. Der Kripobeamte, der seine Enkel in Pflege genommen hat und Hilfe will. Oder Menschen, die fragen: Meine Mutter lässt das Gas an, kann ich sie in ein Heim bringen oder was soll ich tun?“

 

Stark erinnert sich an einen Fall, der sie besonders betroffen gemacht hat.

„Ich hatte letztens eine Mutter hier, deren Kind an Krebs gestorben ist. Sie hat es vier Jahre lang begleitet und hat noch drei andere Kinder. Die Mutter hat sich vom Beerdigungsinstitut übers Ohr hauen lassen. Sie hat gesagt, sie ist ALG II-Empfängerin, aber das Institut hat ihr eine Privatrechnung geschrieben und jetzt muss sie über 5000 Euro nachzahlen. Der Bestatter hat ihr nie gesagt: das müssen Sie extra zahlen. Das finde ich richtig schlimm.“

 

Ein tiefer Atemzug. Galgenhumor hilft.

„Da kann auch niemand in Prenzlauer Berg sagen: Wir trinken Latte Macchiato, aber Krebs oder Depressionen haben wir nicht.“

 

Manchmal schrubbt Stark bis spät am Abend Überstunden. Trotzdem kann Stark längst nicht alle Menschen beraten, die in die Sprechstunde wollen. Sie sieht müde aus.

„Ich wohne nicht in Prenzlauer Berg und es ist mir wichtig, für mich selbst eine Heimfahrt zu haben. Es tut gut, eine Dreiviertel-Stunde nach Hause zu fahren – zum Runterkommen.“

 

Daheim trinkt Stark vermutlich einen Filterkaffee.

 

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