Wer denkt an die Kinder?

von Thomas Trappe 17. Juni 2014

Immer mehr Eltern im Bezirk wollen glauben, ihre Kinder seien hochbegabt. Sie fordern zusätzliche Hochbegabtenklassen. Vielleicht wäre es besser, diese stattdessen ganz abzuschaffen?

Seit letzter Woche gehen in Pankow die Hochbegabten um. Mit viel Lärm um Hirn machten in der vergangenen Woche Eltern aus dem Bezirk darauf aufmerksam, dass es für ihre angehenden Fünftklässler-Kinder zu wenig Plätze in sogenannten Schnelllernklassen des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums in Alt-Pankow gebe. Es ist die einzige Schule im Bezirk mit diesem Spezialangebot, bei dem vor der regulär sechsjährigen Grundschulzeit aufs Gymnasium gewechselt wird, Voraussetzung ist ein guter IQ-Test. Eltern zogen wegen des Mangels erbost vor das Büro der Bildungssenatorin Sandra Scheeres, die war nicht da, das Thema aber auf der Tagesordnung. Tenor: Es gibt zu wenig Angebote für die Hochbegabten in Pankow, und damit auch für die Kinder in Prenzlauer Berg. Die Zahlen scheinen es zu belegen. 60 Plätze sind am Rosa-Luxemburg-Gymnasium vorhanden, 110 geeignete Bewerber gab es dieses Jahr. Kein Wunder, dass die neu gegründete Initiative „Bildung nach Bedarf” nun fordert, zusätzliche Klassen einzurichten. Dabei sollte man die Explosion der Hochbegabung im Bezirk zum Anlass nehmen, generell das System der „Hochbegabtenklassen” in Frage zu stellen. 

Ein kleiner Exkurs ins Milieu der Hochbegabten. Das ist nämlich ein oft recht trauriges. Es gibt Menschen, die sind intelligent, und es gibt Menschen, die lassen sich ihre überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigen. Heraus kommen dann seltsame Vereinigungen, die bekannteste von ihnen ist Mensa, ein weltweit organisierter Club der Hochbegabten. Um hier Mitglied zu werden, muss man einen Intelligentest absolvieren, und der muss die Zahl 130 überschreiten. Der Club ist Selbstzweck, Mitglieder werden Mitglied, um Mitglied zu sein. Wer einmal eine etwas ausführlichere Recherche zum Thema Hochbegabung in diesen Kreisen absolvieren musste, weiß, warum sich das Wort Schwanzvergleich aufdrängt. Viel mehr ist es in aller Regel nicht.

 

Im Wedding gibt es nicht weniger Hochbegabte

 

Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst, Psychologiestudenten lernen das recht früh. Hier mal ein Beispiel an der eigenen Person, eine Erfahrung als Testperson für eben einen solchen Studenten. Beim ersten Test erzielte ich einen Quotienten um die 80, beim zweiten einen um die 130. Meine Intelligenz schwang damit vom Niveau Forrest Gumps auf jenes eines nahen Verwandten Einsteins. Blödsinn natürlich, in Wahrheit hatte ich beim ersten Mal einen Kater, das zweite Mal wollte ich es wissen. Es bewies sich auch hier die Unfähigkeit eines IQ-Tests, zuverlässig etwas über Intelligenz zu sagen. Die Leistungsbereitschaft desjenigen, der ihn belegt, spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Oder der Leistungswillen desjenigen, der einen erziehungsberechtigt zum Test schickt. Es ist davon auszugehen, dass auch Prenzlauer Berger Viertklässler selten den Wunsch nach einem Intelligenztest verspüren. Die Elternneigung, sein eigenes Kind als das süßeste und klügste (der ganzen Welt) einzuordnen, ist hinlänglich beschrieben und hier findet es seinen Niederschlag. Dass das Phänomen auch ganze Gruppen ergreift, zeigt ein Satz in der Pressemitteilung der Initiative „Bildung nach Bedarf” ganz frappierend. „In Stadtteilen wie dem Wedding”, heißt es da quasi-analytisch, „hatten sich wesentlich weniger Kinder zum Test angemeldet als in Pankow, wo es offenbar mehr besonders viele leistungsfähige und -bereite Kinder gibt”. Nein! Es gibt nur mehr Eltern, die offiziell hochbegabte Kinder haben wollen. Ein bis zwei Prozent der Menschen sind laut Statistik hochbegabt. Grob gerechnet sind das 30 bis 50 Viertklässler in ganz Pankow. Nicht 110.  

 

Die Spezialklasse als Heilsversprechen

 

110 Kinder im Alter um die 9 Jahre, die das vergangene Schuljahr damit verbracht haben, sich die Zugangsvoraussetzungen für eine Hochbegabtenklasse drauf zu schaffen, und sich wahrscheinlich Wochen lang auf einen Intelligenztest mit dem schulpsychologischen Dienst vorbereitet haben. In der vagen Hoffnung, später einen Kreis von Knirpsen anzugehören, die ebenfalls hochbegabt sind. Was das mit den Kindern anrichtet, kann man nur ahnen. Was es mit den Eltern anrichtet, steht ebenfalls in schon zitierter Presseerklärung. Für sie wäre eine dritte Schnelllerner-Klasse nicht weniger als ein „Pfingstwunder”, erklären sie. Die Hochbegabtenklasse wird zum Heilsversprechen und macht Eltern, Kinder und wahrscheinlich auch genügend Lehrer ganz kirre. Mit einer Abschaffung wäre deswegen vielen geholfen.

Dagegen wäre nun natürlich einzuwenden, dass eben jene rund 50 Schüler ihrer Spezialförderung am Rosa-Luxemburg-Gymnasium verlustig gingen. Die Frage ist, ob das schlimm wäre? Erstens, weil davon auszugehen ist, dass die Zusammensetzung der Schnelllerner-Klassen willkürlich ist, soll heißen, auch an den fünften Klassen der gewöhnlichen Grundschulen aller Wahrscheinlichkeit nach Schüler sitzen, die einen IQ-Test mit mehr als 130 Punkten abschließen würden, so sie denn auf die Idee kämen, ihn zu machen. Und zweitens, weil es auch ohne jene Spezialklassen möglich ist, all die hochmotivierten Viertklässler besonders zu fördern, selbst wenn man dem herkömmlichen Berliner Schulsystem nicht traut. Es gibt im Bezirk mehrere Oberschulen, die schon Fünftklässler aufnehmen und spezielle Profile anbieten, unter anderem bilinguale und naturwissenschaftliche. Der Vorteil gegenüber den Hochbegabtenklassen: Hier ist ein Spezialinteresse das bindende Glied, und nicht eine vorangegangene Leistungsschau. Klar, ein paar Eltern verlieren dann die Möglichkeit, ihr Kind als hochbegabt titulieren zu können. Was für ein Gewinn.

 

 

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