Der einreisende Reporter

von Juliane Schader 29. Oktober 2014

Illegale Dreharbeiten und Filme als Schmugglerware, das gehörte für Holger Kulick als ZDF-Reporter in Ost-Berlin zum Alltag. Damals brachte er den langsamen Zerfall der DDR in die Wohnzimmer in Ost und West. Heute beschäftigt ihn die Aufarbeitung der Stasi-Akten.


Holger Kulick hat ein besonderes Talent. Er kann unfassbar unaufgeregt Geschichten erzählen, die direkt aus einem höchst spannenden Spionageroman zu stammen scheinen: Wie er nachts nach einem illegalen Konzert mit seinem Käfer voller Oppositioneller in eine Polizeikontrolle geriet. Wie Diplomaten für ihn Filmmaterial über die Grenze schafften. Wie er als Reporter ins Chemiekombinat Bitterfeld geschmuggelt wurde und aufgrund seines zur Tarnung geliehenen, viel zu kurzen Arbeitsoveralls fast aufgeflogen wäre. Das alles erzählt er so ruhig, als gelte es zu berichten, was es gestern zum Mittagessen gab. Aber bis zum Fall der Mauer war das eben sein Alltag, und Alltag ist gewöhnlich. Als Journalist arbeitete Kulick für „Kennzeichen D“, ein politisches Magazin des ZDF, das sich Themen diesseits und jenseits der Mauer widmete. „Das D stand natürlich für Deutschland, aber auch für Denkanstoß und Dialog“, erklärt er. Seine Aufgabe: Ungefilterte Reportagen aus der DDR.

Nach Berlin (West) kam Kulick, der in Wiesbaden aufgewachsen ist, Anfang der 1980er Jahre zum Studium. Schon bald waren Kontakte zum ZDF geknüpft, für das er zunächst für das Kulturmagazin „Aspekte“ arbeitete. Den Weg zur Kulturszene jenseits der Mauer wies ihm Klaus Staeck, heute Präsident der Akademie der Künste, der ihn in versteckte Galerien und zu privaten Lesungen nach Prenzlauer Berg mitnahm. Ausgerechnet Sascha Anderson, damals Liebling der Szene, später als Spitzel der Stasi enttarnt, nahm sich seiner an, öffnete Türen und machte Kontakte. Irgendwann war Kulick dann nicht mehr nur der Besucher, der für das Westfernsehen berichtete, sondern er gehörte einfach dazu. „Als Journalist soll man sich zwar eigentlich nicht mit einer Sache gemein machen. Aber hier ging es um Selbstverwirklichung und Freiheit. Da steht man doch klar auf einer Seite.“

 

„Die hatten ihren Spaß, Menschen einzuschüchtern“

Anders als seine in Ost-Berlin akkreditierten Kollegen arbeitete Kulick immer von West-Berlin aus: Als Privatmann mit Tagesvisum ging er über die Grenze. Öfter wurde ihm die Einreise spontan verweigert, einmal versuchte man ihn wegen eines Devisenvergehens festzusetzen, da er noch 1,60 Ostmark in der Tasche hatte. „Manchmal hat man schon die Luft angehalten. Die hatten ihren Spaß, Menschen einzuschüchtern“, sagt er heute. Auch die Angst, überwacht zu werden, war immer präsent. Vom Grenzübergang zum Drehort ging es nie direkt, sondern immer im Zickzack. „Zweimal meinte ich, jemand Komisches dabei gesehen zu haben, wie er mich aus einer Umhängetasche mit Loch in der Seite filmte.“

Eine Paranoia, die auch den Umgang miteinander überschattete. „Einmal saß ich mit einem Kollegen abends bei einem privat organisierten Schmalfilmabend, der einfach nicht startete. Irgendwann haben wir gefragt, was los sei, und da hieß es ,Es geht erst los, wenn ihr weg seid.’“ Kulick hatte von dem Abend von einem Freund erfahren, der selbst aber nicht erschienen war. Nun fehlte die Kontaktperson, die für die Besucher hätte bürgen können. Ein kompliziertes Konstrukt, bei dem man immer unter Verdacht stand und das zugleich auf völligem Vertrauen basierte.

Seine Berichte drehte der Journalist immer illegal. Die Bänder schmuggelten Diplomaten, die nicht kontrolliert wurden, in den Westen. „Da gab es einen kleinen Grenzverkehr, von dem die Stasi sicher wusste“, erzählt er. Verhindert habe sie ihn aber nicht. Zudem schrieb Kulick für Zeitungen im Westen, aber auch für im Selbstverlag von Oppositionellen herausgegebene Samisdat-Zeitschriften in der DDR. Beides jedoch nur unter Pseudonym. Verwandte seines Vaters, der 1950 in die BRD geflüchtet war, lebten in Neuruppin. Sie wollte er nicht gefährden.

Gleiches galt natürlich auch für diejenigen, über die er berichtete. Ein Auftritt im Westfernsehen konnte schlimme Konsequenzen haben, versprach aber auch einen gewissen Schutz. Denn wer öffentlich bekannt war, war schwieriger wegzusperren. „Das war immer ein Abwägungsprozess.“ Allerdings, meint Kulick, habe damals auch schon das Tauwetter geherrscht, das mit Michail Gorbatschows Weg von Glasnost und Perestroika im Ostblock eingesetzt hatte. „Ich glaube, die größte Macht der Stasi war die Angst der Menschen. Doch in den 19080ern brach das auf und es gab eine wachsende Zahl vor allem junger Leute, die sich dieser Angst widersetzten. Sie wollten ihr Leben leben – egal, ob sie inhaftiert wurden.“

 

Der Moment, wenn es keinen Befehl mehr gibt

Am Abend des 9. Novembers saß Holger Kulick vor dem Fernseher, als die Pressekonferenz von Günter Schaboskwi übertragen wurde. Sogleich rief er bei seinem Chef an, um ein Kamerateam zusammen zu bekommen. Doch der wiegelte ab. Für ein politisches Magazin gebe es in dieser Nacht nichts zu tun; die Nachrichtenredaktion würde sich schon kümmern. „Es erschien einfach zu unwahrscheinlich, dass wirklich etwas passieren würde.“

Er selbst fuhr dann trotzdem ans Brandenburger Tor, wo sich auf auch der Westseite immer mehr Menschen stauten. „Irgendwann stand ich dann auf der Mauer, mit Blick auf die Grenzer, die in einer langen Reihe ihre Grenze sicherten.“ Erst im Laufe des Abends habe man gemerkt, dass diese nicht eingreifen würden. „Dieser Moment, wenn es keinen Befehl mehr gibt, und die Menschen plötzlich Mensch sind. Das war das Faszinierende dieser Nacht.“

Ein weiteres Bild, das Kulick wohl nie vergessen wird, stammt vom nächsten Morgen, als sich um den S-Bahnhof Friedrichsstraße als einem der wenigen Orte, an dem man schon über die Grenze kam, eine ewig lange Menschenschlange wickelte. „Da hatten dann alle begriffen, was passiert war.“

Die Mauer war gefallen, die friedliche Revolution hatte Erfolg gehabt, und das Fernsehen hatte seinen Beitrag dazu geleistet, als es mit seinen Berichten die Opposition in der DDR sichtbar machte, meint Kulick: „Es hatte einen Multiplikatoreffekt. Sendungen wie Kennzeichen D oder Kontraste hatten 50 Prozent Einschaltquote in der DDR. Das war uns bewusst.“ Im Westen habe das übrigens lange kaum jemanden interessiert.

 

Der Fall Sascha Anderson

In den folgenden Wochen brach unter Journalisten eine Art Goldgräberstimmung aus. Es war die Zeit, als Spiegel-Redakteur Matthias Matussek sich über Wochen im Ost-Berliner Palasthotel einmietete und am laufenden Band Texte über den fernen Osten produzierte. Auch Kulick brachte Reportage um Reportage aus dem Umbruchsland. Sein Fokus lag allerdings nicht nur auf der nun möglich gewordenen Erkundung eines bislang abgeschotteten Landes. „Es ging auch darum, zu zeigen, wie Westfirmen die Leute über den Tisch gezogen haben und wie die Aufarbeitung läuft. Da musste man am Ball zu bleiben, um Nostalgikern vorzubeugen.“

Damals gelang es Kulick auch, ein Stück Kulturgeschichte auf Band zu bannen: Er filmte das Streitgespräch zwischen Wolf Biermann und Sascha Anderson, kurz, nachdem Ersterer bei seiner Rede zum Büchnerpreis Letzteren als Stasi-Spitzel enttarnt hatte. Einen offiziellen Beleg für dessen IM-Tätigkeit gab es damals noch nicht, sodass der aufgebrachte Biermann ungebremst auf den alles abstreitenden Anderson prallte. Für Kulick, der nicht nur seit langem mit Anderson befreundet war, sondern diesen sogar 1986 nach seiner Ausreise in den Westen ein paar Monate beherberg hatte, eine mehr als seltsame Situation. Ein letztes Mal stellte sich die Frage, wer Freund und wer Feind war. Plötzlich sah der Journalist sich auch selbst mit dem Vorwurf konfrontiert, IM gewesen zu sein.

Kurz darauf brachte ein Blick in die Akten Klarheit: In einem der erstem Säcke mit zerrissenen Dokumenten, die die damals frisch gegründete Stasiunterlagenbehörde öffnete, fand sich der Fall Sascha Anderson. Nun erfuhr auch der Westdeutsche Holger Kulick, wie es sich anfühlte, von Freunden verraten worden zu sein.

 

Stasi-Akten als Dokument der Zivilcourage

In den nächsten Jahren wurde Kulick Berlin-Korrespondent für Spiegel Online, arbeitete für  ein Projekt gegen Rechtsextremismus und schlichtete nebenbei den Streit zwischen Sophiengemeinde und Politik um die Gestaltung der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße. Seit vier Jahren ist er nun bei der Stasiunterlagenbehörde. „Es ist deprimierend, wenn man die Akten ansieht. Man denkt, Zivilisation sei viel weiter“, sagt er. Einerseits.

Andererseits dürfe man es sich aber auch nicht zu leicht machen und pauschal urteilen. Wer aus der Geschichte lernen wolle, müsse die Gründe für Handlungen verstehen. „Wie kann Versöhnung laufen? Eine Demokratie muss Wege finden, alle mitzunehmen.“

Und noch etwas hat er aus seinem Umgang mit den Zeugnissen der Geschichte gelernt: „Die Akten werden falsch gewichtet. Es geht immer nur darum, wer IM war. Dabei sind sie auch das größte zeitgeschichtliche Dokument über Zivilcourage.“ Auf fünf Anwerbungsversuche der Stasi kämen drei Absagen – weil viele ihre Freunde und Familie eben nicht verraten wollten.

Nach dem Fall der Mauer haben sich Kulicks Freunde aus dem Prenzlauer Berg in die Welt aufgemacht. Doch viele sind längst zurückgekehrt, um die neuen Möglichkeiten in der alten Heimat auszuprobieren. „Viele haben sie genutzt, manche sind auch gescheitert. Die Schere, die da aufgegangen ist, ist riesig. Aber alle halten zusammen“, meint er.

„Das Ziel ist nicht, Bundesdeutscher, sondern ich zu sein. Das ist der Geist von Prenzlauer Berg: Sich einfach nicht zu beugen, sondern ich sein zu wollen.“

 

 

Lesen Sie hier weitere Texte aus der Reihe zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.

1. Teil: Tim Eisenlohr verbrachte seine Jugend in der DDR-Opposition, mit 14 wurde er von der Stasi verhaftet. Erst seit Kurzem berichtet er als Zeitzeuge über die damaligen Ereignisse.

2. Teil: Manfred Kristen war zur Wende Polizist in Prenzlauer Berg. Die Grenze der DDR beachtet er bis heute.

3. Teil: Reinhard Fuhrmann saß als „Republikflüchtling“ in Hohenschönhausen. Später wurde er vom Westen freigekauft. Den Mauerfall erlebte er dennoch in Ost-Berlin. 

5. Teil: Günter Wehner wurde 1953 von Wilhelm Pieck persönlich in die SED gebeten. Später war er Geschichtslehrer, Armeenlenker und Macher des Traditionskabinetts im Ernst-Thälmann-Park. Mit dem Mauerfall kam die Frührente; als Historiker ist er weiter im Dienst.

Und hier erklären wir, warum es diese Reihe gibt: Warum die Wende in Prenzlauer Berg auch heute noch ein Thema ist, bei dem keineswegs nur Einigkeit herrscht.

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