Die Spurensucherin

von Juliane Schader 13. Februar 2012

Seit 20 Jahren forscht Inge Lammel über das jüdische Leben in Pankow. Einst wurde die heute 87-jährige Jüdin selbst aus Deutschland vertrieben.


Inge Lammel hat ihren neuen Orden da verstaut, wo er hingehört: In einer Schublade. „Sowas trägt man doch nicht“, meint die 87-Jährige. Vor vier Tagen ist ihr der Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für ihre Forschung zur jüdischen Geschichte Pankows verliehen worden. Eine Auszeichnung, die ihr genau so wichtig zu sein scheint, wie es der Aufenthaltsort Schublade vermuten lässt: „Ich habe mich halt ehrenamtlich engagiert. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit.“

Fast 20 Jahre ihres Lebens hat die alte Dame bislang in ihre Arbeit zum jüdischen Leben im Ortsteil Alt-Pankow investiert. „Als ich 1985 in Rente ging, habe ich nach einer neuen Aufgabe gesucht. Ich wollte weiter wirksam sein“, meint sie. Wenn man sie an diesem kalten Wintertag durch ihre Wohnung nahe des Bürgerparks wuseln sieht, scheint ihr das sehr gut getan zu haben. Jeder Name, jede Straße sitzt, wenn sie über die Protagonisten ihrer Forschung spricht. Nur bei den Jahreszahlen kommt sie manchmal durcheinander. Bei über einem Jahrhundert Zeitgeschichte, das sie erforscht und erlebt hat, ist das aber auch kein Wunder.

 

Berufsverbot für den Vater und Schikanen in der Schule

Geboren wurde Inge Lammel 1924 in Prenzlauer Berg. In der heutigen Erich-Weinert-Straße hat sie ihre ersten Lebensjahre verbracht, bevor die jüdische Familie nach Lankwitz zog. Nach der Machtergreifung durch die Nazis wurde ihr Vater als Angestellter bei der Deutschen Bank bald mit Berufsverbot belegt. Daran erinnert sie sich noch, ebenso wie an manche Schikane in der Schule. Doch wie schlimm es wirklich gestanden hätte, davon hätte sie als Kind wenig mitbekommen, meint sie heute.

Im Sommer 1939 entkamen die damals Fünfzehnjährige und ihre Schwester mit einem der letzten Kindertransporte nach England. Den Eltern fehlte das Geld für die Auswanderung; 1943 seien die deportiert worden und beide in Auschwitz umgekommen, erzählt Lammel sachlich. Das habe sie nach Jahren der Ungewissheit herausgefunden, als sie nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkehrte.

Denn obwohl Lammel in England nicht nur eine Ausbildung als Säuglingspflegerin absolvierte und danach in London in Kindergärten und Heimen arbeitete – bleiben wollte sie in dem fremden Land nicht. Der Schritt zurück ins Täterland, den viele Exilanten bis heute scheuen, war für sie eine natürliche Angelegenheit. „In England habe ich mich politisiert. Ich wollte die Demokratie in Deutschland aufbauen, den Faschismus aus den Köpfen der Menschen verscheuchen“, meint sie. Ja, eine gehörige Portion Idealismus habe damals natürlich dazugehört.

 

Inge Lammel zog es zurück nach Ost-Berlin

Als sie im Herbst 1947 zurück nach Berlin kam, entschied sie sich bewusst für den Ostteil der Stadt. Zunächst kam sie bei einer nicht-jüdischen Tante in der heutigen Danziger Straße unter. Kurz darauf lernte sie ihren Mann kennen und wurde in Pankow heimisch. Einen neuen Beruf suchte sie sich auch, studierte Musikwissenschaften und forschte später über die deutsche und internationale Arbeitermusikbewegung. Bis 1985 leitete sie das Arbeiterliedarchiv an der Akademie der Künste.

Nachdem sie in Rente gegangen war, stürzte sie sich zunächst in die Forschung über Frauen im Kampf gegen den Faschismus. Erst nach der Wende, die ihr Einblicke in Bücher westdeutscher Verlage gewährte, fokussierte sie sich auf die jüdische Geschichte Pankows. „Es gab damals schon sehr detaillierte Berichte zum Beispiel über Juden in Neukölln. Da habe ich mir gedacht: Das machst Du mal in Pankow“, erzählt Lammel.

Zunächst machte sie sich daran, Zeitzeugen zu befragen. Meist waren es nicht-jüdische Pankower, die ihr berichteten, woran sie sich noch erinnerten. Helfer sahen sich in Zeitungsarchiven um. „So haben wir herausgefunden, dass es in Pankow sehr viele jüdische Ärzte gab, und etwa mit der Garbáty-Cigaretten-Fabrik auch bedeutende Unternehmer.“ Zudem sei Pankow ein beliebter Standort für jüdische Wohlfahrtseinrichtungen gewesen. Hier fanden sich jüdische Kinder-, Säuglings- und Lehrlingsheime sowie ein jüdisches Waisenhaus. „Die haben sich in Pankow angesiedelt, weil es schon damals ein grüner Bezirk war“, erklärt die alte Dame.

 

Geschichte am Beispiel persönlicher Schicksale

Die ersten Ergebnisse ihrer Arbeit präsentierte sie 1991 in einer Ausstellung im Pankower Rathaus, 1993 folgte das erste Buch. Seitdem gab es immer wieder Ausstellungen und Veröffentlichungen; 2007 ist das Gesamtwerk „Jüdische Lebenswege: Ein kulturhistorischer Streifzug durch Pankow und Niederschönhausen“ erschienen. „Die persönlichen Schicksale haben mich immer am meisten interessiert“, meint Lammel. „Ich habe viele ermittelt, die als Kinder ins Ausland gegangen sind und deren Eltern in der Shoa umgekommen sind.“ Deren Fotos und Berichte sind ihn ihr Werk eingegangen.

Der Fokus der Arbeit, die den Zeitraum von 1900 bis 1945 umfasst, liegt aber auf dem Alltag der Menschen. „Das jüdische Leben beschränkt sich nicht auf die Shoa“, meint Lammel. Das habe sie deutlich machen wollen. Doch die meisten der einzelnen Lebensgeschichten, die sie nachverfolgt hat, enden genau dann, als es für die jüdische Bevölkerung keinen Alltag mehr gab. Über viele Seiten zieht sich in ihrem Buch die Liste der Deportierten. Wie sie sich über Jahre als Jüdin diesem Thema aussetzen konnte? „Ich sehe das nicht nur von der emotionalen Seite. Ich habe eine wissenschaftliche Forschungsarbeit gemacht“, sagt Lammel.

Ihr Engagement endete nicht bei den Büchern und Ausstellungen. So hat sie sich etwa auch für Instandsetzung des ehemaligen jüdischen Weisenhauses in der Berliner Straße eingesetzt. Als das Haus 2001 als Kultureinrichtung wiedereröffnet wurde, hat sie dafür gesorgt, dass sich fast 20 ehemalige Zöglinge zu diesem Anlass wiedertrafen. Auch die Erinnerungstafeln, die an Häusern angebracht an deren frühere jüdische Bewohner erinnern, hat sie angeregt. Finanziert hat Lammel das alles über Spenden. Die einen würden sagen, was für eine große Leistung das sei und die Orden aus dem Schrank holen. Für Inge Lammel bleibt es bei der Selbstverständlichkeit.

 

Das Buch „Jüdische Lebenswege: Ein kulturhistorischer Streifzug durch Pankow und Niederschönhausen“ ist im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen und kostet 24,80 Euro.

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