25 Jahre später

von Juliane Schader 9. November 2014

Wo einst die Mauer zuerst aufging, stiegen zuletzt die Ballons der Lichtgrenze in den Himmel. So endete am Sonntagabend ein Gedenk-Wochenende, an dem Trabis hupend Richtung Westen rollten und Walter Ulbricht ausgepfiffen wurde.

Kurz nach fünf am Freitagabend. Erst mal gucken, wie die Lichtgrenze so aussieht, die sie vor ein paar Minuten angeknipst haben. Am südlichen Ende des Mauerparks stolperte man als erstes in einen Souvenirshop. T-Shirts mit Berlin-Schriftzug und Modell-Trabis, dafür sind die Menschen 1989 aber nicht auf die Straße… egal.

Gerade erkennen viele, dass ihre Handykameras im Dunkeln sehr schlechte Fotos machen. Wahre Profis haben natürlich ein Stativ dabei. Den ersten Ballons ist derweil schon die Luft ausgegangen (und das Licht).

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Kurz darauf beim Kaiser’s. Statt der Treueherzen soll man an der Kasse das Wendeheft mitnehmen. Und jetzt alle festhalten: Das Heft lässt sich von vorne und hinten lesen – man kann es also wenden. Der Knaller. Übrigens geht es auch thematisch um die Wende. Offenbar kann man deren Bedeutung für diese Supermarktkette nicht hoch genug einschätzen.

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Völkerwanderung über den Schwedter Steg, Freitagabend gegen zehn. „Ich hatte es mir größer vorgestellt“, sagt eine junge Frau. Im Mauerpark fotografieren die Touristen sogar die große Leinwand vor der Max-Schmeling-Halle, obwohl da gerade gar nichts läuft. Ein paar Jugendliche sind jetzt betrunken genug, um die Zerstörung der Ballons in Angriff zu nehmen – grölend und mit Erfolg.

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An der Norweger Straße. (Fotos: jw)

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Der Morgen darauf am Arnimplatz. Eine alte Frau, die sich sehr viel Mühe mit ihrer Frisur gegeben hat, unterhält sich mit einer jungen Frau, die sich ebenfalls sehr viel Mühe mit ihrer Frisur gegeben hat, damit diese aussieht, als hätte sie sich heute noch nicht gekämmt. Im Vorbeigehen erfährt man, worum es geht: Fluchten über Ungarn.

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Mittags an der Bornholmer Straße. Rund um den Lidl-Parkplatz hat der RBB seinen Ü-Wagen-Fuhrpark platziert. Gar nicht wenige Laster, die sie da aufgefahren haben. Eine gute Gelegenheit, um unter den Augen der Weltöffentlichkeit sein Pfand wegzubringen.

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Später am Mauerpark sammelt sich eine große Menschentraube vor der Leinwand, auf der die Filmcollage „Mauerstücke“ von Marc Bauder läuft. Als dort Walter Ulbricht verkündet, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten, wird er ausgepiffen.  Am Himmel ziehen Flugzeuge Kondensstreifen.

Nachmittags im Mauerpark.

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Die Karten für die angebotenen Führungen sind auf dem direkten Weg, sich zu Bückware zu entwickeln. Am Schalter nebenan bevorratet sich schon jemand mit 15 Karten für den nächsten Tag. Schon heute ist der Andrang so groß, dass aus einer spontan drei Gruppen gemacht werden. Wir stolpern im Dunkeln den Hügel zum Jahn-Sportpark hoch und erfahren, dass hier am 6. November 1989 die Berliner ihre eigene Mannschaft, den als Stasi-Verein verschrienen BFC Dynamo, in einem Europapokal-Spiel gegen den AS Monaco auspfiffen. Außerdem geht es um die Verschiebung der Grenze Richtung Westen, die 1988 im Zuge eines Gebietstausches erfolgte. Noch bis Anfang des Jahres 1990 habe man an der Anlage des neuen Grenzstreifens gearbeitet. „Das ist Planwirtschaft“, meint der Mann, der uns in bester Reiseführermanier hinter einem hochgehaltenen Ordner herlaufen lässt und so durch die Menge manövriert. Am Ende der einstündigen Führung ist die Gruppe doppelt so groß wie am Anfang. „Vielleicht können ja die, die bezahlt haben, wenigstens nach vorne kommen“, meint er.

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„An Ballons Langlaufen, das ist doch voll langweilig!“ Das Kind, das gerade von seinen Eltern die Schwester Straße hochgezerrt wird, hatte sich vom Samstagabend offensichtlich anderes erwartet.

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Samstagabend, kurz vor sieben. Auf der Leinwand an der Bornholmer Straße sind das Brandenburger Tor und Ulli Zelle zu sehen. Es riecht nach Glückwein. Einen Platz, um von der Brücke Richtung Süden zu sehen, muss man sich hart erkämpfen. Der Parkplatz des Lidls ist überfüllt; die Kunden kommen heute aus ganz Deutschland.    

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Sonntagmittag an der Bösebrücke.

Gleicher Ort, Sonntagmittag. Alle Trabi-Besitzer des Landes scheinen verabredet zu haben, heute im Laufe des Tages hupend die Bösebrücke zu befahren (bevor sie ab 14 Uhr gesperrt wird). Die unzähligen Besucher fotografieren begeistert, sehr zum Leidwesen von Angela Merkel, deren Rede gerade auf der Leinwand übertragen wird und kaum Beachtung findet. Eine Frau, sicher schon weit im Rentenalter, macht ein Selfie mit dem S-Bahnschild „Bornholmer Straße“ im Hintergrund. 

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Um kurz vor sechs geht an der Kreuzung Eberswalder Straße gar nichts mehr. Die M10 schleppt sich sehr unregelmäßig und völlig überfüllt aus dem Friedrichshain her. Vor der roten Ampel wartet ein alter Mercedes, deren dauergewellte Insassin das Fenster leicht heruntergekurbelt hat, sodass alle etwas von ihrem Musikgeschmack haben: Total Eclipse of the Heart, Bonnie Tyler. Die ebenfalls wartenden Radler singen spontan mit. Das nennt man in Deutschland wohl einen David-Hasselhoff-Moment.

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Langsam ist es an der Zeit, die Top Drei der Dinge zu benennen, die man beim nächsten Mal beim Besuch einer Massenveranstaltung lieber zu Hause lässt. Platz 3: die XXL-Pizza. Platz 2: die Zehn-Meter-Leiter. Platz 1: der Sombrero mit zwei Metern Durchmesser. Und das mit dem winzigkleinen Welpen, das war auch nicht okay.

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Zwanzig vor sieben an der Max-Schmeling-Halle. Auf der Leinwand besprechen drei westdeutsche alte Männer, wie das damals war mit dem Mauerfall. Sie nennen es „Bericht aus Berlin“. In der Ferne sieht man Leute auf den Dächern der Dänenstraße stehen. Auf einer Dachterrasse hat sich jemand einen sehr starken Laserpointer besorgt und blinkt nun in die Menge. Kann man machen, muss man aber nicht.

Abends im Mauerpark.

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Beethovens Ode an die Freude ist längt verklungen, da erreicht die riesige La-Ola-Welle, in der die leuchtenden Ballons in den Himmel entlassen werden, den Mauerpark. Parallel zündet an der Bösebrücke das Feuerwerk, wo man offenbar nicht mehr abwarten konnte, bis auch dort die Ballons steigen dürfen. Großer Jubel, auch wenn man sich vorher schon darauf geeinigt hatte, dass beim nächsten Mal doch bitte alle Ballons gleichzeitig losgelassen werden sollen.

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Im Gleimviertel geht um kurz nach acht nichts mehr. Menschenmassen schieben sich Richtung Schönhauser Allee; mit dem Auto bleibt man einfach auf der Straße stecken. „Ob die sich heute auch noch freuen würden, wenn man ihnen mit der Hand auf die Motorhaube haut?“, fragt eine junge Frau. Ausprobiert wird es nicht.

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Wenig später an der S-Bahn Bornholmer Straße. Polizisten riegeln den Zugang zum Bahnhof ab, damit die Menge nur nach und nach auf den Bahnsteig gelangt. Auf der Brücke muss dringend mal die BSR vorbeischauen. Zwei Ballonpaten tragen die Kegel, die einst die Ballons hielten, als Hüte auf dem Kopf; ein dritter schleppt gleich den ganzen Ständer heim. „Kein Wunder, dass die bei der Kälte nicht länger vor der Grenze warten wollten“, meint ein Jugendlicher zu seinen Kumpels.

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In der Norwegerstraße wird die Technik für die Scheinwerfer abgebaut. Die Ballonständer sind bereits verschwunden. Ein Flaschensammler geht um. Wo einst die Grenze war, ist nun nicht mehr zu erkennen.

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